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25 Jahre mairisch - Teil 1: The early years (1996-2002)

Von Peter Reichenbach und Daniel Beskos

 

Freundinnen, Freunde!

Wir sind selbst etwas ungläubig - 25 Jahre gibt es den mairisch Verlag jetzt schon! Am 31. August 1999 sind wir (Blanka Stolz, Peter Reichenbach, Daniel Beskos) zum Gewerbeamt im südhessischen Rodgau gelaufen, schick angezogen, mit seltsamen Frisuren und einer Flasche Sekt und haben mairisch angemeldet. Wie es dazu überhaupt kam und was in den 25 Jahren alles passiert ist, wollen wir hier in unserer Blogserie erzählen. Wir haben tief in unseren Archiven gewühlt und jede Menge lustige Fotos, Flyer, Plakate und Videos ausgegraben. Viel Spaß - hier die Jahre 1996-2022!

 

 

Der "Club der lebenden Dichter" (1996-1998)

 

Wie fangen diese Kinofilme immer an? "Es war der erste Tag der Sommerferien, und es schien, als läge eine ganze Ewigkeit vor einem. Eine Ewigkeit, die angefüllt sein würde mit endlosen Abenden am See, Fahrten entlang der Maisfelder durch den warmen Sommerwind und der Gewissheit, dass dieser Sommer niemals enden würde."

Der Sommer 1996 entwickelte sich tatsächlich zu einer kleinen Ewigkeit. Vor allem Daniel, der gerade sein Abitur in der Tasche hatte, konnte sich auf viele freie Monate freuen, sein Zivildienst würde erst im Winter beginnen, und wie es danach weitergehen würde, war noch völlig unklar. Wir hingen viel im Jugendclub "Das Häuschen" im Nachbardorf Hainstadt rum. Hier konnte man nach der Schule immer Leute treffen, im Bandkeller proben, Tischtennis spielen oder einfach helfen, das ganze Gelände instandzuhalten. Im Sommer organisierten wir zusammen kleine (Punk)-Festivals, fuhren große Mengen Bier in der "Fegro" kaufen und halfen auch mal den örtlichen Jusos beim Plakateaufhängen.

 

 

Wir, Peter und Daniel, hatten bei der Geburtstagsfeier einer Freundin den Plan gefasst, eine Band zu gründen und trafen uns in Peters Kellerzimmer zum Proben. Allerdings endeten die Treffen regelmäßig in wilden Kochsessions, dazu gab es süßen, griechischen Rotwein - und wir lasen uns vor, was wir im Verlauf der Woche selbst geschrieben und gelesen hatten: Songtexte, Gedichte und Texte von anderen Autoren, Kerouac, Kling (Geschrebertes Idyll war unsere Hymne), Brinkmann, Bernhard. Nachdem wir Burroughs im tollen ACID (herausgegeben von Rolf Dieter Brinkmann und Ralf-Rainer Rygulla) entdeckt hatten, experimentierten wir viel mit Schreibmaschine und Schere. Ginsbergs Howl druckte Daniel sich aus (14 Seiten!) und hängte es an seine Wand.

 

Die Erfahrung, wie langweilig es kurz zuvor bei der Lesung von Friederike Mayröcker im Frankfurter Literaturhaus gewesen war (was definitv nicht an ihr lag, sondern am Veranstaltungsformat), wie blutlos und leer uns die Literatur der Gegenwart erschien (wir kannten allerdings auch kaum was), trieb uns vorwärts. Wir wollten eine Literatur schaffen und finden, die stark und mutig vom Jetzt erzählt. Wir entdeckten die Social-Beat-Bewegung, waren begeistert von Autoren wie Robsie Richter und Kersten Flenter, die eine Literatur von unten propagierten. Wir standen auf der Frankfurter Buchmesse und regten uns über die Buchpreise für schmale Lyrik-Heftchen auf. Das musste doch auch anders gehen!

 

Im Herbst 1996 gab es in unserem Heimatort Rodgau ein sogenanntes Veranstaltungs-Radio (Radio EAR), also einen Radiosender, bei dem jeder mitmachen konnte und der nur für etwa eine Woche auf Sendung war. Wir bewarben uns mit einem Sendungskonzept aus Literatur und Musik ("Club der lebenden Dichter"), erhielten tatsächlich einige Sendeplätze und legten los. Äh, wie macht man eigentlich eine Radiosendung? Man quatscht einfach drauf los, legt alle paar Minuten Punksongs oder Hamburger Schule auf und liest zwischendurch Texte vor oder unterhält sich mit Autorinnen und Autoren. Das Event-Radio kam im Ort super an, dauernd riefen Freunde im Studio an und sagten: "Ich hör euch!" Manchmal riefen auch Leute an, die wir gar nicht kannten. Legendär ist folgende Anekdote: Ein Typ kontaktierte uns in der Sendung, er war völlig fertig, seine Freundin hatte sich gerade von ihm getrennt. Jetzt wollte er sie ein letztes Mal grüßen, wünschte sich dazu einen superdepressiven Song und verabschiedete sich dann pathetisch. Wir machten uns natürlich sofort Sorgen - was würde jetzt mit ihm geschehen? Doch wenige Minuten später hatten wir seine Freundin am Apparat, die die Sendung ebenfalls gehört hatte und ihn erreichen wollte - sie wollte nicht, dass er sich etwas antat und verzieh ihm. Happy end, live im Radio! We were on fire.

 

Peter hatte parallel die Idee, im "Häuschen" eine Dichterlesung zu veranstalten und dazu auch noch ein paar Freundinnen und Freunde einzuladen, von denen wir wussten, dass sie schrieben. Poetry Slams und Lesebühnen waren damals bei uns auf dem Land noch unbekannt und auch lange nicht so verbreitet wie jetzt, mit "Lesung" verband man eher Stehpult mit Wasserglas und genau solche Abende, wie wir ihn im Literaturhaus erlebt hatten. Im "Häuschen" kam unsere Idee entsprechend schlecht an: "Echt jetzt, Lesung?" Aber wir blieben beharrlich. Am 25. Oktober 1996 fand dann der CLUB DER LEBENDEN DICHTER #1 statt. Vor ca. 60 Zuschauerinnen und Zuschauern eröffneten wir dramatisch (wie die 90er-Jahre eben waren) mit einem Zitat von W.C. Williams: "Hold back the edges of your gowns, Ladies, we are going through hell ..."


Wir lasen eigene Texte vor - hatten aber auch Freunde mitgebracht: Christian Löbig mit seinen Kurzgeschichten, Til Stolz las Gedichte, Jens Jekewitz alles querbeet. Der kleine, schlechtbeheizte Partyraum des "Häuschens" war völlig überfüllt und alle waren angetan von dieser sonderbaren Idee, eine "Lesung" zu veranstalten. Und blieben es auch, jeden Monat, bei jeder der folgenden Veranstaltungen. Und jedes Mal war es ein fast magischer Moment, wenn alle gebannt den Geschichten zuhörten, wenn immer noch mehr Texte aus den Taschen geholt und gelesen wurden, bis tief in die Nacht. So wie die Texte dieses einen Autors, den keiner von uns kannte, der aber spontan einen langen Weg auf sich genommen hatte, um bei uns mal vorzulesen. Und der dann eine endlos lange Faxreihe auf dem Boden ausrollte, auf der er seinen Text ausgedruckt hatte. Die Geschichte war traurig, dunkel, anklagend, aber auch mit ein bisschen Hoffnung versehen. Wir waren sehr bewegt, an diesem Abend. Wir haben den Autor danach nie wieder gesehen. Wir haben gehört, dass er irgendwann einige Jahre später von einem Lastwagen überfahren wurde. Aber das ist eine andere Geschichte.

Jedenfalls: Genauso hatten wir uns das vorgestellt. Jeder konnte Text schreiben und vorlesen, man brauchte kein Literaturhaus und niemanden, der einem sagte, was Literatur ist und was nicht.
 

 

Nach der dritten Veranstaltung wurden wir gefragt, ob man die Texte auch kaufen könne. Konnte man natürlich nicht. Zum Glück hatten wir gerade Tils Schwester Blanka kennen gelernt - die beiden halfen uns, im elterlichen Grafikbüro (das es immer noch gibt: www.stolzdesign.de) kleine Hefte zum CLUB DER LEBENDEN DICHTER zu layouten, Bilder einzuscannen und überhaupt mal die Skills eines Computers jenseits von C64 kennenzulernen. Die Hefte mit den Texten der jeweils vorherigen Lesung haben wir zusammengetackert und selbstentwickelte Fotos reingeklebt, einen aufwändigen Umschlag gefertigt … und dann in einer Auflage von 100 oder 150 Stück bei der nächsten Veranstaltung verkauft, für zwei Mark.

 

REISAUSZ (1999-2002)

 

Wie das nach dem Abi so ist, verschlug es uns in den folgenden Jahren in unterschiedliche Richtungen: Blanka ging zum Studieren nach Leipzig, Daniel erst nach Heidelberg, dann nach Marburg, Peter zum Zivildienst in die USA, Jens Jekewitz veranstaltete in Wiesbaden Slams und Lesungen. Trotzdem schafften wir es irgendwie, immer wieder gemeinsam (und mit Til Stolz und anderen) Lesungen zu organisieren oder zumindest dort aufzutreten - im alten Leipziger Kino, in Berliner Galerien, bei diversen Poetry Slams und Open Mikes, auf dem besetzten Bauwagenplatz in Darmstadt, im Frankfurter Radio und in einer Aachener Tankstelle. Wir gingen meist zu viert auf Tour, drei Lesende, dazu zeigte Blanka live Fotoshows mit passenden Bildern zu den Texten. Wir nannten uns REISAUSZ - nach einer geplanten Anthologie, die dann doch nie erschienen ist. Der Name aber blieb, und wir waren dann mit ihm bis 2002/2003 bundesweit unterwegs.

 


 

In Heidelberg lernte Daniel Sebastian Januszewski kennen, der aus Thüringen stammte, literaturbegeistert war und hervorragende Reden halten konnte. Er veranstaltete damals Lesungen am schönen Heidelberger Schloß und in ebenso schönen Tiefgaragen und gab mit anderen die Literaturzeitschrift DER VERRECKTE SAUHUND heraus. Begeistert stiegen wir ein. Mit Sebastian zusammen organisierten wir 1999 und 2001 zwei kleine Lesereisen durch Ostdeutschland, bei denen wir jede Menge tolle Leute kennen lernten, aufgesparten DDR-Wein trinken durften, unsere Isomatten in dubiosen Hinterzimmern ausrollten und auch dem ein oder anderen Schicksal entscheidende Wendungen gaben.

 

 

Auch die Mainzer "Minipressenmesse" hatten wir für uns entdeckt, eine Messe für Kleinverleger und Handdrucke, wir nahmen 1999 und 2001 daran teil. Beim ersten Mal musste man ins Formular natürlich einen "Verlagsnamen" eintragen. Dank einer Anekdote, die sich kurz zuvor ereignet hatte, die wir aber schon soooo oft erzählt haben, dass wir sie hier einmal weglassen wollen, hatte sich bei uns das schöne, hessische Wort MAIRISCH eingenistet, was eigentlich "Vogelmiere" bedeutet, aber auch synonym für "Unkraut" verwendet wird. Wir trugen es ins Formular ein - und der Name blieb kleben, auch bei uns.

Auf den Messen stellten wir u.a. das von Blanka mit zwei Freundinnen herausgegebene Literatur- und Kunstmagazin FLUGBILDER aus, aber auch jede Menge - man muss es mal so deutlich sagen - selbstgebastelten Quatsch: Eine alte Tabakdose mit uralten Fotos, kleine Frischhaltetüten mit selbstverfassten Gedichten, Take-away-poetry und so weiter. Minipresse in the house.

 

MAIRISCH (ab 1999)

 

A propos Verlagshaus: Die Verlagsgründung selbst war so spontan, dass wir heute kaum noch sagen können, warum wir das eigentlich gemacht haben. Wahrscheinlich war es einfach der nächste logische Schritt in unserem Projekt "Arrogant und unerfahren". Peter rief Daniel im Urlaub an und sagte: "Hier, Dienstag, Gewerbeamt, alles klar?" An dieser Stelle als official info für alle Nachmacher: Man zahlt pro Person ca. 20 Euro, füllt ein paar Formulare aus, dann ist man eine GbR. Der ganze Stress kommt erst später.

Und Startkapital hatten wir übrigens nie. Wir drei haben jeder fünfzig Mark in die Kasse getan, dann kamen noch ein paar Honorarspenden rein, das war alles, was jemals reinfloss. Von da an musste sich der Verlag aus sich selbst heraus finanzieren. Warum das klappte, wissen wir bis heute nicht so genau.

 

Der mairisch Verlag war 1999 dann mit Peter und Daniel nach Marburg umgezogen (und hatte als zweites Headquarter Leipzig, wo Blanka wohnte) - von unseren WG-Zimmern aus planten wir die Literatur-Weltherrschaft, naja. Allerdings mussten wir zwischendurch dann doch wieder in die Uni, aber zum Glück ja auf Magister - damals hatte man wirklich unendlich viel Zeit für alles Mögliche. Fast jedes Wochenende waren wir zu Lesungen unterwegs, in Köln, Leipzig, Freiburg oder Hannover, und außerdem erschienen die ersten offiziellen mairisch-Titel mit Lyrik, Prosa und Hörspiel, alles natürlich made at copyshop:

 

mairisch #1 bis #9

 

In der Zwischenzeit hatten wir uns probeweise ein Vierspur-Aufnahmegerät geliehen und schrieben ein Hörspiel übers Abhauen und Unterwegssein: "W-Ort". Durch einen Zufall konnten wir das Ganze dann nochmal in der Wiener Uni in einem professionellen Studio neu aufnehmen, veröffentlichten es dann auch auf CD und reichten es bei verschiedenen Hörspielwettbewerben ein - der 1. Platz beim Leipziger Hörspielsommer bescherte uns eine seltsame Siegertrophäe und eröffnete uns einen ersten Einblick in die freie deutsche Hörspielszene, die sich später in unseren "pressplay"-Anthologien wiederfinden sollte. Hier Fotos von den Tagen im Studio in Wien - 14 Stunden am Tag konzentriert an einem Text zu arbeiten, war wirklich ein der besten Erfahrungen überhaupt:

 

 

Wir waren also jede Woche irgendwo unterwegs, nur in Marburg gab es für den Verlag nicht viele Möglichkeiten, öffentlich wahrgenommen zu werden. Wir wollten in eine Großstadt. Bald war der Plan gefasst: Auf nach Hamburg! Und dann ging das Abenteuer erst richtig los.

 


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Schwenckestr. 68

D-20255 Hamburg

Tel: +49 (0)40-6889 6755

kontakt@mairisch.de

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