Von Judith von Ahn und Daniel Beskos
Es ist der 25. Oktober 1996. Es ist früh dunkel geworden an diesem Abend. In einem südhessischen Dorf haben sich ungefähr 60 Leute im kleinen, unbeheizten Kickerraum eines Jugendzentrums
versammelt. Für Oktober ist es schon ziemlich kalt, man kann den eigenen Atem sehen, alle tragen dicke Pullover und Jacken, drängen sich auf den runtergekommenen Sofas und dem verstaubten Boden
eng aneinander. Ganz vorne steht ein Sessel, daneben eine schummrige Tischlampe, ansonsten ist der ganze Raum nur durch Kerzen erleuchtet. Trotz der Kälte wird Bier getrunken. Endlich tritt ein
junger Mann nach vorne, lächelt in die Runde und sagt: „Liebe Freunde, willkommen zur ersten Ausgabe des Clubs der lebenden Dichter. Wir eröffnen mit den Worten von W.C. Williams: Hold back the
edges of your gowns, Ladies, we are going through hell.”
So fing die allererste Lesung an, die wir jemals veranstaltet haben. Als wir in unserem Jugendzentrum „Das Häuschen“ mit der Idee um die Ecke kamen, hier doch mal Literatur zu präsentieren, waren alle erstmal sehr befremdet. Man veranstaltete dort Parties, Konzerte, Trinkgelage, Lagerfeuer – aber Lesungen? Und doch konnten wir die Lesung letztlich machen. Konnten einige Freunde mit ihren Kurzgeschichten dafür gewinnen. Haben verschämt eigene Texte vorgelesen. Erst wollte kaum einer kommen. Dann war der Raum doch noch gestopft voll. Und blieb es auch, jeden Monat, bei jeder der folgenden Veranstaltungen. Und jedes Mal war es ein fast magischer Moment, wenn alle gebannt den Geschichten zuhörten, wenn immer noch mehr Texte aus den Taschen geholt und gelesen wurden, bis tief in die Nacht. So wie die Texte dieses einen Autors, den keiner von uns kannte, der aber spontan einen langen Weg auf sich genommen hatte, um bei uns mal vorzulesen. Und der dann eine endlos lange Faxreihe auf dem Boden ausrollte, auf der er seinen Text ausgedruckt hatte. Die Geschichte war traurig, dunkel, anklagend, aber auch mit ein bisschen Hoffnung versehen. Wir waren sehr bewegt, an diesem Abend. Wir haben den Autor danach nie wieder gesehen. Wir haben gehört, dass er irgendwann einige Jahre später von einem Lastwagen überfahren wurde. Aber das ist eine andere Geschichte.
Der mairisch Verlag ist also im Grunde aus dieser Lesereihe entstanden. Seitdem haben wir immer wieder junge, unbekannte Autorinnen und Autoren zu Lesungen eingeladen, sind mit ihnen durchs Land gereist, haben in Jugendzentren und Literaturhäusern gelesen, auf Buchmessen und Bauwagenplätzen, an Flüssen und unter Brücken, in Kneipen, Hallen und Wohnzimmern. Und warum? Weil die Lesungen, auch wenn für unseren Verlag das Büchermachen irgendwann immer wichtiger wurde und auch, wenn sich unsere Lesungsformate inzwischen sehr verändert haben, für uns noch immer wesentlicher Bestandteil der Arbeit mit und an Literatur sind. Persönlichen Kontakt mit seinen Lesern bekommt man selbstverständlich auch auf Buchmessen oder im Internet. Aber nirgendwo geht es so sehr um die Texte selbst, nirgendwo kriegt man so direkte und ehrliche Reaktionen wie bei Lesungen – und nirgendwo macht es so viel Spaß. Das ist für uns bis heute so geblieben. Und es ist der Grund, warum Lesungen für uns noch immer so wichtig sind.
Vom Rechner auf die Bühne
Natürlich ist das ein ganz besonderer Moment: Wenn das Buch gedruckt ist, die ersten Exemplare aus der Druckerei kommen, man es endlich in den Händen halten kann. Nachdem es all die wichtigen Schritte durch das Lektorat, die Gestaltung und Herstellung gegangen ist, die Kollegen geschwitzt und geackert haben, darf man es endlich anfassen, aufklappen und darin blättern. Aber bisher haben es ja nur ganz wenige Personen je gesehen oder darin gelesen: Die Autoren, unser Team von Lektoren, Gestaltern, Presseleuten, und vielleicht auch schon die ersten Journalisten. Aber etwas fehlt da eben noch: Der erste Kontakt mit der Außenwelt, mit den Lesern. Und der versetzt uns alle immer noch regelmäßig in Spannung. Zum Glück findet er meistens bei einer Lesung oder Buchpremiere statt. Wenn der Text dort dann gut ankommt, die Zuschauer gebannt folgen und vielleicht an unerwarteten Stellen lachen oder erstarren, dann erst merkt man, woran man all die letzten Monate so intensiv gearbeitet hat, und wofür es gut war: Einem rundum guten Text in angemessener Form auf die Welt verholfen zu haben.
Von der Bühne in die Medien
Selbstverständlich sind Lesungen auch Werbung. Für den Verkauf eines Buches sind sie allerdings bei weitem nicht so entscheidend wie etwa die Pressearbeit. Dennoch können Sie ein gutes Stück zum Erfolg beitragen, vor allem dann, wenn sich die beiden Bereiche gegenseitig unterstützen: Eine umfangreiche Lesereise trägt sehr dazu bei, die Pressearbeit in den bereisten Städten zu erleichtern, vor allem Lokalzeitungen und Stadtmagazine sind für eine Rezension viel offener, wenn ein Termin des Autors/der Autorin in der Stadt ansteht. Unterstützt wird das Ganze durch klassische Veranstaltungspressearbeit, aber auch durch unsere Online-Kanäle (v.a. Newsletter, Facebook und Twitter). Außerdem ist eine Lesereise auch eine gute Gelegenheit für lokale Medien, vor Ort Interviews mit den Autoren zu führen, auch wenn das leider immer seltener vorkommt. Und umgekehrt trägt die daraus resultierende Medienpräsenz dann eben dazu bei, dass die Lesungen gut besucht sind.
Here we are now, entertain us
Lesungen (Poetry Slams mal ausgenommen) finden ja meistens in Buchhandlungen, im Rahmen von Festivals oder in Literaturhäusern statt. Es gibt allerdings zum Glück auch jede Menge
kleinerer Veranstalter, die mit viel Engagement Lesereihen organisieren und oft ein besonders stimmungsvolles Ambiente bieten. Zwar zeichnet sich in den letzten Jahren gerade auf
Festivals eine leicht anstrengende Tendenz ab, sich immer abgefahrenere, spektakulärere und ungewöhnliche Orte für Lesungen auszudenken (z.B. in einer Fussballkneipe, im Bordell, auf
einer Fähre, in Tunnels und Bergwerken usw.). Aber dennoch sind es gerade die Orte abseits der Buchhandlungen und Literaturhäuser, die oft für ganz große Literaturmomente sorgen können –
z.B. Lesungen in privaten Wohnzimmern und WGs, also in ganz besonders intimem Rahmen.
Oder aber: Die Veranstaltung an sich ist einfach etwas ganz Besonderes.
Benjamin Maack etwa absolvierte 2012 zur Buchpremiere seines Erzählbandes „Monster“ 24 Lesungen in 24 Stunden – und hatte sich dazu eine Menge Freunde, Bekannte und Lieblingskünstler eingeladen, die Musik machten, kochten, seine Texte interpretierten, sich gegenseitig mit Elektroschocks traktierten, Tee reichten und Benjamin zum Schluß einfach stützten, wenn er vom Barhocker zu kippen drohte.
Bei Stevan Paul ("Schlaraffenland", "Monsieur, der Hummer und ich") dagegen werden die Veranstaltungen passend zu seinen Erzählungen vom Kochen zu echten Menü-Lesungen – zur Lesung gibt es dann ein mehrgängiges Menü mit den Gerichten aus den vorgelesenen Geschichten. Dann ist etwa in einem Text ein kleiner Junge erst dadurch zu trösten, dass seine Mutter ihm warmen Milchreis mit Kirschen kocht, und die Zuhörer bekommen dann danach genau diesen Milchreis. Ganz einfach, aber super, das Konzept.
Eine Lesereise und ein Bühnenprogramm, auf das wir ganz besonders stolz sind, ist „Du drehst den Kopf, ich dreh den Kopf“, das der Autor Finn-Ole Heinrich und der Musiker Spaceman
Spiff (aka Hannes Wittmer) zusammen entwickelt haben. Es besteht aus einer ausgeglichenen Mischung von Finns Texten und Hannes’ Songs, dazu gibt es einige Texte, bei denen Hannes einen
Soundtrack aus Loops und Sounds beisteuert. Die beiden stellten uns das Ganze vor und wollten unbedingt damit auf Tour gehen, schnell war auch die dazugehörige CD-Aufnahme beschlossen.
Wir haben es dann tatsächlich geschafft, eine Tour zu organisieren mit 27 Veranstaltungen innerhalb von 31 Tagen, die durch Polen, Deutschland, Tschechien und Österreich führte,
mitten im schneereichen Dezember, durch Literaturhäuser, Kulturzentren, Schlösser, Clubs, Cafés, Schulen und Theater. Sicherlich eine der anstrengstenden Lesereisen ever, aber für uns sicherlich
auch eine der schönsten. Und für dieses Bühnenprogramm wurden die beiden tollerweise 2012 auch mit dem Preis der Autoren ausgezeichnet.
Solche Momente zu ermöglichen, bedeutet für uns im Verlag natürlich eine Menge Arbeit. Wir handeln ja gewissermaßen als Booking-Agentur: Veranstalter müssen gesucht und überzeugt, die Termine und Honorare ausgehandelt, eine sinnvolle Reiseroute zusammengebastelt, Plakate gedruckt und verschickt, Unterkünfte und Büchertische organisiert, Verträge ausgehandelt und unterschrieben werden. Aber gerade diese Beispiele haben uns gezeigt, warum sich das Ganze doch so sehr lohnt.
Auch mit unseren eigenen Lesereihen in Hamburg, TRANSIT (2003-2008) und PILOTEN (2013-2014) versuchen wir, mehr als nur eine einfache Lesung zu bieten: Bei TRANSIT gab es nicht nur monatlich je 4 AutorInnen, sondern auch ein Rahmenprogramm aus Kurzfilmen, Songwritern, Bands, Foto-Projektionen. Und auch bei unserer Lesereihe PILOTEN gibt es noch Gespräche mit den Autoren rund um ihr Schreiben, aber auch über viel anderes.
Von der Hand in den Mund
Einen Punkt haben wir bis jetzt noch gar nicht erwähnt: Geld. Für nicht wenige Autoren sind Lesungen die Haupteinnahmequelle, noch weit vor den Einnahmen aus den
Buchverkäufen oder aus Preisen und Stipendien. Nicht zuletzt aus diesem Grund sind Lesungen auch für uns interessant: Wir können so aktiv zum Einkommen des Autors beitragen und auf diese Weise
die in Indie-Verlagen üblicherweise doch eher niedrigen Vorschüsse etwas ausgleichen.
Das Reisen und Vorlesen wurde in den letzten Jahren immer wichtiger und gehört inzwischen zu einem guten Teil zum Beruf des Autors dazu. Die Bücher „einfach“ nur
zu schreiben, reicht meist nicht mehr. Das Selbstverständnis als Autor unterliegt also offenbar einem Wandel – vielfach wird derzeit darüber diskutiert, wie sehr ein Autor sich selbst auch
präsentieren können muss, um Erfolg zu haben, wie sehr er auch in der Öffentlichkeitsarbeit und Selbstvermarktung involviert sein muss. Wie weit das notwendig ist, darüber kann man streiten. Für
uns ist aber klar, dass zumindest Lesungen selbstverständlich zur Arbeit als Autor dazugehören – nicht zuletzt auch aus finanziellen Gründen. Vom Buchverkauf allein kann fast kein Autor mehr
leben. Die meisten Autorinnen und Autoren sind also – und zwar für ihre gesamte Berufslaufbahn – auf Lesungen angewiesen, wenn sie ihr Geld nicht durch andere Nebentätigkeiten verdienen wollen.
Man kann es aber vielleicht auch umgekehrt sehen: In seinem Beruf von Bühne zu Bühne zu reisen, seine Arbeit vor einem interessierten Publikum vorzutragen, sich dann noch beklatschen zu lassen – das ist vielleicht nicht das Schlechteste. Zumindest aber ist es der Ort, an dem die Literatur zum Leben erweckt werden kann.
Judith von Ahn ist bei mairisch die zentrale Ansprechpartnerin für alle Lesungen und Veranstaltungen.
Daniel Beskos ist Mitgründer des mairisch Verlags und bei mairisch vor allem fürs Programm und die Kommunikation verantwortlich.
Weiterlesen:
Teil 1 - Manuskripte und Lektorat
Teil 2 - Grafik-Design und
Buchgestaltung