Ich will die Wahrheit sagen, unbedingt

Michael Weins über seinen Roman "Goldener Reiter"

Wir haben ein Buch wieder aufgelegt, das für uns die erste Berührung mit dem Autor Michael Weins war, lange bevor wir ihn dann später persönlich kennen gelernt haben. Das Buch heißt "Goldener Reiter", erschien 2002 bei einem großen Publikumsverlag als Taschenbuch und war dann recht schnell auch wieder von der Bildfläche verschwunden.

Seitdem haben wir mit Michael Weins drei schöne Bücher gemacht ("Lazyboy", "Delfinarium" und "Krill"). Nur seinen allerersten Roman, "Goldener Reiter", gibt es nicht mehr. Das kann ja eigentlich nicht sein, haben wir uns gedacht. Haben das Buch nochmal in die Hand genommen und gelesen. Wir waren etwas besorgt, ob es uns nach all der langen Zeit noch immer so gut gefallen würde. Aber das Gegenteil war der Fall: Die Geschichte von Jonas Fink, dessen Mutter langsam den Boden unter ihren Füßen verliert und schließlich in die Psychiatrie eingeliefert wird, hat uns mehr berührt denn je.

Wir konnten nicht anders, als dieses großartige Buch in einer wunderbar golden strahlenden Hardcover-Ausgabe neu aufzulegen. Weil es einen zweiten Blick verdient.


Neu war uns allerdings, dass die Geschichte nicht ganz so fiktional ist, wie man das bei einem Roman immer annimmt. Vielmehr verarbeitet Michael Weins darin auch eigene Kindheitserlebnisse. Warum er darüber jetzt spricht, dazu hat er im Buch ein Nachwort geschrieben, das wir hier in voller Länge wiedergeben.


Das Jahr der Zwiebel

Nachwort zu "Goldener Reiter" - Von Michael Weins

Michael Weins (Foto: Chris Zielecki)
Michael Weins (Foto: Chris Zielecki)

Jede Autorin, jeder Autor, jede Besucherin von Lesungen kennt das. Immer werden am Ende die drei obligatorischen Fragen gestellt: Woher nehmen Sie Ihre Inspiration? Können Sie vom Schreiben leben? Ist das autobiografisch?

Und immer erleben Autoren die Frage nach dem autobiografischen Hintergrund als besonders lästig. Spielt es für die literarische Qualität eines Textes wirklich eine Rolle, ob ihn sich einer ausgedacht hat oder nicht? Lässt sich das überhaupt auseinander halten? Was heißt schon ausdenken? Speist sich nicht alles aus irgendwelchen Quellen? Fiktionalisieren wir nicht sowieso ohne Unterlass unser eigenes Leben? Erzählen wir uns nicht sowieso im konstanten Selbstgespräch von unserem Dasein, suchen den Reim auf Leuchtturm-Momente und Alltag?


Als vor über zehn Jahren mein Roman »Goldener Reiter« erschien und ich die ersten Male aus dem Buch vorlas, erlebte ich die Frage nach dem autobiografischen Hintergrund des Erzählten mit besonderer Anspannung. Und ich glaube, den Zuhörerinnen und Zuhörern ging es ebenso. Sie wollten wissen, wie viel Jonas Fink steckt in Michael Weins. Bin ich der Ochsenzoll-Sohn meiner Ochsenzoll-Mutter?

Ich habe mich damals gewunden. Ich habe versucht, nicht direkt zu lügen. Ich habe aus verschiedenen Gründen versucht, die Wahrheit mit verschiedenen Mitteln zu verschleiern. Mir war sogar dazu geraten worden. Ich habe auf meinen Beruf als Psychologe, der mit Kindern und Jugendlichen arbeitet, und die damit verbundenen Erfahrungen verwiesen, die detaillierte Kenntnis von Psychiatrien und ähnlichen Orten. Ich habe über meine Kindheit in den 80er-Jahren gesprochen und die allgemeine Atmosphäre, die ich damals wahrgenommen habe. Ich habe einen spielerischen Umgang versucht, habe geantwortet: zu 26 %, was jede weiterführende Frage erstickte. Und ich kam mir dabei clever vor. Aber ich habe gelogen, denn in Wirklichkeit sind es 89,2 %.

Ich habe damals keine schlichte Antwort gegeben. Denn die schlichte Antwort lautet: Ja.


Für die Lüge oder das Verschweigen gab es verschiedene Gründe, und sie haben mit dem Thema zu tun. Der erste Grund lautet: Scham. Und der zweite Grund lautet: Scham (wie beim Fightclub). Und die anderen vermutlich auch. Scham. Ich schämte mich für dieses Buch. Und ich schämte mich für meine Kindheit. Ich schämte mich für meine Mutter, die ich liebe. Und ich hatte Angst, dass ich nachher nie wieder ein literarischer Autor sein dürfte, sondern nur noch der Sohn der Verrückten, der Geisteskranken, möglicherweise selber nicht ganz dicht. Aber es war nun einmal die Geschichte, die ich zu erzählen hatte. Ich hatte damals diese und keine andere. Und die Geschichte schien mir gut. Und ich hatte eine Sprache gefunden, sie zu erzählen.

Ich bin Schriftsteller. Damals war ich Psychologe, heute bin ich Psychotherapeut. Und jetzt gibt es das Buch noch einmal, nach über zehn Jahren. Und diesmal will ich die Chance nicht verpassen. Ich will die Wahrheit sagen, unbedingt. Obwohl ich mich immer noch schäme. Ich spreche diese persönliche Wahrheit aus, weil ich weiß, dass es viele gibt, die sich ebenso schämen wie ich. Für ihren Bargfeld-Steegen-Papa oder was weiß ich. Die glauben, dass sie schuld sind und dass sie etwas verbergen müssen. Den Alkoholismus, die Depression, das Messietum, die Zwangsstörung oder einfach nur normal verkorkste Eltern. Oder eben eine Mutter mit paranoider Schizophrenie, wie ich. Solche, die jeden Tag lächelnd über Leichen in die Schule gehen, und keiner weiß Bescheid. Denen die Fassade alles ist, weil sie Schutz verspricht und Sicherheit bietet.


Dieses Buch ist ein Roman. Es ist immer noch keine Autobiografie. Es ist kein Sachbuch. Es hat einen explizit literarischen Zugriff auf das Thema. Es wählt seine Form und seine Mittel, es abstrahiert, es reduziert Komplexität, es verdichtet, komprimiert das ehemals Wirkliche zu Kunst und es lässt Dinge weg.

Ich habe damals auch gelogen, um die zu schützen, die unmittelbar von der Geschichte, die ich erlebte, die sie erlebten, betroffen waren. Und sind. Um mich zu schützen. Um sie zu schützen. Ich bin ein literarischer Autor, ich habe andere Bücher geschrieben und ich werde wieder andere Bücher schreiben als dieses, das besonders nah an meinen persönlichen Gründen schürft. Ich werde wieder Figuren und Gegenstände wählen, die zwar ich sind, aber mehr in einem vorgestellten Sinne. Wie sich verkleiden auf dem Dachboden. Diese Verkleidung hier ist eigentlich keine. Ich hatte vor etwas über zehn Jahren den Koffer mit den alten Kleidern aufgemacht, die ich trug, als ich zehn, zwölf Jahre alt war. Ich habe meine wirkliche Welt beschrieben. Ich habe mich dabei erinnert und wieder erlebt und sicherlich etwas verarbeitet. Ein Verarbeitungsbuch, peinlich. Und meine Welt ist dabei zu einer virtuellen Welt, einer Nicht-Welt geworden. Zu Fiktion.


60 % aller Kinder psychisch kranker Eltern entwickeln im Laufe ihres Lebens ebenfalls eine psychische Störung, las ich kürzlich. Innerhalb der Allgemeinbevölkerung sind es etwa 20 %. Ich glaube, dass der Schlüssel zu psychischer Gesundheit vor dem Hintergrund solcher Erfahrungen in Transparenz und Bindung liegt. Liebe und Offenheit, eine Sprache für das, was geschieht. Trotz des Misstrauens, des Ärgers, der Scham und der Hilflosigkeit gibt es Liebe zwischen Frau Fink und ihrem Sohn. Und bei allem Gestotter findet diese Mutter innerhalb des sprachlosen Umfelds doch noch Worte für die Katastrophe und kann ihrem Sohn sagen, dass sie krank ist. Und deshalb braucht er es nicht zu werden. Am Ende können die beiden zu Silvester vom Tisch springen. Mit der Frage nach der Widerstandskraft, warum einige krank werden und andere nicht, beschäftigt sich die Resilienzforschung. Man kann durch einen Hundehaufen gehen und muss trotzdem nachher nicht die Schuhe in die Tonne werfen, um noch ein Bild des Romans zu benutzen. Allerdings muss man die Kacke mit dem Stöckchen aus den feinen Rillen der Turnschuhsohle kratzen, was auch nicht schön ist. Ich habe Glück gehabt.

 

Deshalb stelle ich dieses Buch noch einmal hinaus in die Welt. Und ich hoffe, dass es diesmal gezielter seinen Weg finden kann zu jenen, die noch keine Sprache und keine Offenheit erleben und denen dieses Buch deshalb vielleicht etwas nützen kann. Das würde mich freuen.


Ich möchte mich bei folgenden Personen bedanken, die mich auf dem Weg zu diesem Buch und zu dieser Haltung unterstützt haben: Sigrid Behrens, Arne Wendtland, Sven Amtsberg, Tina Uebel, Benjamin Maack, Sascha Bunz, Dr. Frank Wistuba und Evelin Gottwalz-Itten. Mein besonderer Dank gilt dem mairisch Verlag für sein Vertrauen, insbesondere Daniel Beskos, Peter Reichenbach und Stefanie Ericke-Keidtel. Und meiner Familie. Danke.

 

Michael Weins, April 2013


Michael Weins - "Goldener Reiter"

Was geschieht, wenn einer Mutter ernsthaft die Nerven durchgehen, wenn der Boden unter ihren Füßen brüchig wird und man sie in die Psychiatrie einweist, nach Ochsenzoll? Jonas Fink verliert jede schützende Hülle seiner Kindheit. Die Mutter ist nicht mehr, wie sie war, sie tut Dinge, die sie niemals tat, und Jonas ist vollauf damit beschäftigt, beobachtend und beschreibend der Erosion seines Lebens Einhalt zu gebieten. Er hält sich an die Tatsachen. Er wahrt den Anschein von Normalität. Denn letztlich ist normal, was passiert, zumindest für ihn: Seine Mutter ist eine Ochsenzoll -Mutter und er ist ihr Ochsenzoll -Sohn.

Man kann nicht anders: Man ist sofort auf Jonas Finks Seite, erlebt das Entgleiten der Mutter durch seine Augen und Ohren. Diese Perspektive ist bestechend – und das unzerreißbare Band zwischen einem Kind und seiner Mutter wurde selten so schön beschrieben. Michael Weins gelingt es eindrucksvoll, mit starken Bildern und stilistischer Entschiedenheit von einem Jahr der Veränderung zu erzählen.

Michael Weins
Goldener Reiter
Roman | Hardcover | 208 Seiten | 19,90 €

Inkl. E-Book-Download-Code
ISBN 978-3-938539-28-6
Auch als E-Book erhältlich
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