Von Dorian Steinhoff
Das Flugzeug schlingert auf der Startbahn. Wir haben keine Flugangst. Wir denken an die abgesagten Rosenmontagszüge und die Sturmwarnung. Die Stewardess sagt „bumpy flight“, außerdem sind die Toiletten defekt und die Gesichter der easyJet-Wochenendtouristen sind müde. Wir meinen aus den Sitzen gehoben zu werden, als das Flugzeug beim Landeanflug plötzlich stark absackt. Einige Mitreisende schreien auf, andere vergraben ihre Gesichter im Schoß des Liebsten oder verkeilen sich in ihrem Sitz. Wir müssen uns eingestehen, feuchte Hände zu haben. Das Flugzeug schaukelt noch weiter, nachdem es zum Stehen gekommen ist. Später stehen wir unter der Einflugschneise, sehen, wie selbst die großen Interkontinentalmaschinen durchgerüttelt werden, und sagen: Wäre das mein erster Flug gewesen, jetzt hätte ich Flugangst.
Als erstes kaufen wir uns einen frischen Saft bei Albert Heijn to go. Wir finden, es sollte mehr Albert Heijn in Deutschland geben. Wir freuen uns über die Schilder, die Sprache, von der wir
gerade so viel verstehen, um zu wissen, was gemeint ist, und sie so wenig beherrschen, dass wir kein Wort aussprechen können, ohne uns dabei zu schämen. Wir glauben, so entsteht Komik. Der
Kassierer heißt Bart, hat Wetgel in den Haaren und winterblasse Haut. Wir haben das Gefühl, die Menschen hier sind größer.
Wir fahren mit dem Zug in die Stadt und kaufen uns kein Ticket, weil wir die Automaten in Amsterdam schon beim letzten Mal nicht verstanden haben. Wir sehen Menschen in Schräglage auf die
Bahnhofshalle zulaufen und beschließen drinnen zu warten. Wir freuen uns über das Wiedersehen. Wir machen uns Komplimente. Wir tragen Regenhose und Kapuze und fahren landestypische Fahrräder.
Unser Sattel ist zu niedrig. Wir machen Chopper-Witze. Wir fotografieren uns vor einem Easy Rider-Plakat und versuchen dabei hart zu gucken. Wir essen Avocado-Sandwich und trinken heiße
Schokolade. Wir erzählen uns, wie wir für die nächsten Wochen wohnen, wie die Ham.Lit war und der Bal Littéraire. Wir reden über einen Umzug, über Spülschränke und Linoleumtischplatten. Wir
tauschen Pläne für die nächsten Wochen aus. Wir sind ambitioniert und haben plattgedrücktes Haar.
Wir ziehen weiter. Wir suchen ein Restaurant. Wir kennen den Weg nicht. Es ist dunkel und der Regen peitscht durch die Grachten. Wir halten unsere Mützen fest. Wir ärgern uns darüber, keine
Winterschuhe eingepackt zu haben. Wir schließen unsere Fahrräder sehr sorgfältig ab und haben Angst, dass uns der Schlüssel dabei von der Brücke ins Wasser fällt. Wir werden vollzählig. Der Wind
presst immer wieder die Tür auf. Wir essen uns an den Vorspeisen satt, trinken kleine Biere und fragen uns, ob am Nebentisch Zwillinge sitzen. Der Restaurantmanager trägt einen beigen Anzug mit
Weste und helle Fullbrogues aus Wildleder. Er hält den Gästen die Tür auf und grinst aasig. Wir bestellen Salat und Nachtisch als Hauptgang. Rucola heißt Rocket.
Wir laufen ins Café Brecht. Auf dem Bürgersteig liegen umgewehte Roller. Wir sind nass und gutgelaunt.
Wir schließen unsere Fahrräder neben einem Schaufenster ab, das Jutebeutel ausstellt. Auf ihnen steht: eat pussy, it’s organic.
Wir lesen die Getränkekarte sehr genau. Wir schicken die Kellnerin nochmal weg. Wir bestellen deutschen Wein, holländisches Bier und Genever. Wir nippen an allen Gläsern. Wir haben immer noch
unser Gepäck dabei. Wir reden über Ideen und die nächste Veröffentlichung. Wir zweifeln, wir sind skeptisch. Wir wissen, was wir können. Wir sagen Relevanz, Erzähllogik, Prozess und scheiße und
geil. Zu Hause teilen wir uns ein Stück Kuchen und trinken Tee. Wir gehen einmal im Kreis, Ringelreihe um das Badezimmer. Der Fußboden ist Türkis und ausgebleicht. Wir ziehen die Couch aus. Wir
verwechseln Bettbezug und -laken. Wir teilen die Kopfkissen auf. Wir schlafen gut.
Wir schneiden uns beim Abwaschen. Wir hören nicht auf zu bluten. Wir sagen: Massaker. Wir suchen Pflaster und finden keine. Wir kaufen Vanille-Vla, Obst und Croissants. Und Pflaster. Unsere Liebste sagt, wir hätten Double-Vla kaufen sollen. Wir sagen, sie habe ja keine Ahnung. Wir entwerfen Schlagzeilen: Deutscher Lektor nach Haushaltsunfall in Amsterdam verblutet. Wir finden das nur wenig glamourös. Wir fabulieren: Deutscher Lektor gerät bei dem Versuch, einen ertrinkenden Babyelefanten aus der Prinzengracht zu retten in eine Schiffsschraube, als er gerade dabei ist, mit kräftigen Kraulbewegungen das schwimmende Mausoleum von Harry Mulisch zu überholen, und verliert beide Hände. Die Anwohner sind geschockt, die Prinzengracht noch immer blutrot gefärbt und ganz Amsterdam fragt sich, wer ist dieser Babyelefant? Wir sind zufrieden.
Wir besuchen den Verlag Das Mag. Dort sind alle groß und schön und gut angezogen und sehr hip. Wir sehen schöne
Haare, ein Einstecktuch und hören Namen, die für uns sehr fancy klingen. Wir erfahren: Sie haben gecrowdfundet, sie haben ein neues Büro, sie haben einen Preis gewonnen, sie organisieren ein
Festival in Berlin, sie haben elf MitarbeiterInnen, sie haben einen Shop im Erdgeschoss und ein Café im ersten Stock, das aussieht wie der Showroom einer dänischen Möbeldesignmarke. Ihr erster
Titel steht in Belgien auf Platz eins. Wir fühlen uns international unter Druck gesetzt. Immerhin funktioniert ihre Heizung noch nicht.
Wir haben Geschäftliches zu besprechen. Wir lesen das Manuskript eines Freundes. Wir fotografieren uns gegenseitig dabei. Lesen sieht besser aus. Wir bekommen Kaffee in einem zerbeulten
Plastikbecher serviert. Der Plastikbecher ist aus Porzellan.
Wir werden durch das Viertel geführt. Wir wollen unbedingt eine Käseglocke und Champagnerschalen aus Bleikristallglas kaufen. Wir sagen, die Liebste darf diesen Laden nicht betreten. Wir gehen in
einen Buchladen. Die meisten Erstausgaben liegen als Taschenbücher aus und sind so teuer wie ein Hardcover in Deutschland. Wir merken, dass wir die ersten fünf Sätze von „Der Tod in Rom“
auswendig können, als wir die flämische Ausgabe aufschlagen.
Wir essen alle gemeinsam zu Mittag. Jemand hat Tische im Büro zusammengeschoben und Salat gemacht. Wir sagen unsere Namen. Wir erzählen vom Indiebookday und erfahren, dass es kein holländisches Amazon gibt. Nur die nationale Buchhandelsplattform bol.om mit einem marginalen Marktanteil von zehn Prozent. Wir stellen viele Fragen. Wir erzählen, was wir machen. Wir hören zu. Wir haben Angst, jemandem aufzuhalten und verschränken die Arme. Wir fragen, wer den Salat gemacht hat. Wir sagen: danke.
Wir teilen uns auf. Wir gehen nach Hause. Wir gehen in ein Café. Wir gehen arbeiten. Wir bestellen einen Herd. Wir schreiben E-Mails. Wir schreiben Sehr geehrte, wir schreiben Lieber, wir schreiben Dear. Wir sprechen Englisch, wir haben Internet, mindestens zwei Endgeräte und einen deutschen Pass. Wir telefonieren und versuchen, das Beste rauszuholen. Wir machen Termine. Wir googeln nach Verkaufszahlen. Wir sprechen über die Liebste. Wir sind privilegiert, buisy und fühlen uns kosmopolitisch. Wir bestellen Schokokuchen.
Wir gehen ins nächste Restaurant. Auf der zusammenfaltbaren Karte steht Play Dough für Kinder. Am Nebentisch wirft ein Junge einen Teigklumpen auf einen Teller. Wir denken an den letzten Noah Baumbach Film und wie Greta Gerwig sagt: I wasn’t raised like that. Die Kellnerin sieht schön aus, wenn sie grinst, und hat große Schneidezähne. Wir reden über Geschäftsmodelle, über Autorentypen, über Geldverdienen. Es regnet immer noch. Wir reden sehr schnell. Wir wollen so sein wie dieser geile japanische Tellermacher. Wir wollen mehr. Wir greifen nach der nächsten Sprosse. Wir sind Teil von etwas, das wir ablehnen. Es geht uns so gut wie nie zuvor. Wir stoßen an.
Die Erkältung kriecht uns die Nebenhöhlen hoch. Wir kaufen Wein und Chips, Ingwer und Zitronen. Wir schauen DFB-Pokal. Der Moderator sagt Krimi. Wir sehen das Verbrechen nicht. Wir
ärgern uns. Wir freuen uns. Wir fistbumben. Wir bereiten ein Interview vor. Wir telefonieren mit der Liebsten. Wir gehen früh ins Bett. In der Nacht gewittert es und unsere Nase läuft. Der Regen
prasselt sehr laut gegen die großen Fensterscheiben.
Wir finden, Ingwer-Zitronen-Tee und Vanille-Vla zum Frühstück sollte jede Erkältung bezwingen. Wir überlegen, was wir anziehen sollen. Wir ziehen uns drei Mal um. Wir tragen viel dunkelblau. Wir sind uns einig darüber, dass die Nachrufe auf Roger Willemsen fast alle anheimelnd sind. Wir glauben, dass das die größte Qualität von Herrn Willemsen war: Den Menschen so zugewandt und so einnehmend zu sein, dass sie nur anheimelnd über ihn schreiben können. Wir finden die Nachrufe dann doch nicht nur unangenehm. Wir nennen ihn den deutschen Casanova des 21. Jahrhunderts. Wir müssen los. Wir haben viel vor. Wir dürfen interessante Menschen treffen. Wir müssen auftreten. Wir sehen uns bald wieder. Wir sitzen im Zug, klauen eine Zeitung aus der ersten Klasse, hören Musik und jemand singt: Start a fire on the top floor.
Dorian Steinhoff
*1985 in Bonn, ist Autor und Literaturvermittler. Seit 2007 hat er Auftritte im gesamten deutschsprachigen Raum. Er arbeitet mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen in kulturellen
Bildungsprojekten, außerdem schreibt er für jetzt.de, das Jugendmagazin der Süddeutschen Zeitung, und moderiert Literaturveranstaltungen. Er ist Autor des Erzählbandes "Das Licht der Flammen auf unseren Gesichtern" (2014). Dorian hat uns für drei Tage in
Amsterdam besucht. Das Foto entstand während seines Aufenthaltes.
www.doriansteinhoff.de