Von Peter Reichenbach
In Barcelona gibt es an jeder Ecke Tapas-Lokale oder Bars und auch Cafés, die Tapas anbieten. Man kommt also kaum umhin, Tapas zu essen, wenn man so wie wir etwas länger in der Stadt ist. Die Qualität der Tapas ist bei der Fülle des Angebots natürlich unterschiedlich: Einmal essen wir Kroketten (Croquetas), aus denen eine gewöhnungsbedürftige schleimige Pilzsauce hervorquillt, ein anderes Mal essen wir sehr leckeren Schinken auf schmackhaftem, getoastetem Knoblauchbrot bei El Jardi. Bei The Last Monkey tischt man uns schließlich das beste Essen des gesamten Aufenthalts auf: Fusion-Tapas. Hier treffen kreativ abgewandelte spanische Tapas auf asiatische Zutaten. Aus den berühmten Patatas Bravas, Röstkartoffeln mit scharfer roter Sauce und Aioli, wird Puerro Bravo, gerösteter Lauch mit japanischer Knoblauch-Mayonnaise und indischer Tandoori-Sauce. Wir essen außerdem Kimchi-Avocado-Salat und Auberginen in Ginger-Chili-Sauce ... Alles in kleinen Tapas-Schälchen serviert, wir feiern jedes einzelne Gericht.
Das Entscheidende an Tapas, oder besser am Tapas-Essen, ist allerdings, wie sie gegessen werden - nämlich am besten nicht allein, sondern gemeinsam. In Barcelona sind wir an einem Abend mit einer Gruppe Literaturagent*innen zum Abendessen verabredet, die ich an diesem Abend kennenlerne, also eigentlich eine Art Geschäftsessen. Wir treffen uns in einem Lokal in einem Innenhof des ehemaligen Krankenhauses Hospital de la Santa Creu, auf dem sich auch die Biblioteca de Catalunya befindet und – das verrate ich vorab –, die Tapas werden ihr ganzes soziales Potenzial ausspielen. Denn Tapas sind eine Einladung zum Gespräch. Da man sie gemeinsam isst, muss man gemeinsam entscheiden, welche Tapas man aus der oft großen Auswahl bestellen möchte. Über die Speisekarte gebeugt sprechen wir über die unterschiedlichen Gerichte, in welchem Lokal, in welchem Stadtteil, ja, sogar in welcher Region man die besten oder auch die schlechtesten Tapas gegessen hat. Wenig später weiß man, in welchen Stadteilen die Tischgenossen wohnen, wohin sie gerne in den Urlaub fahren, dass das Leitungswasser oben auf dem Berg weniger Chlor enthält als hier unten in Raval, dass der Hagel an St. Jordi nicht echt, sondern nur eine Fata Morgana gewesen sein kann … Das Gespräch ist schon im vollen Gange, bevor wir die ersten Getränke bestellt haben, und soll nicht mehr abreißen, bis die Polizei uns freundlich bittet, Lokal und Innenhof zu verlassen. Ich kann gerade noch hören, wie die Kollegin sagt, dass sie auf jeden Fall Bamberger Leberwurst an die Agentur schicken wird und versuche mir vorzustellen, wie sie die Leberwurst in ein DHL-Päckchen legt. Diesen schönen Verlauf des Abends haben wir zu großen Teilen den Tapas zu verdanken, und wer das nicht glaubt, der war noch bei keinem deutschen Geschäftsessen dabei.
Ich erinnere mich noch gut an die furchtbare Mon-Cheri-Werbung von 1987 mit dem Anstandsstückchen. Bis dahin war mir nicht bewusst, dass es eine Etikette gibt, die besagt, dass man sich auf gar keinen Fall den letzten Teil einer Gesamtmenge nehmen darf, die man sich mit anderen teilt - und das klingt nicht nur nach Wittgenstein, nein, das ist in unser aller Köpfe eingebrannte deutsche (und wegen Wittgenstein auch österreichische) Esskultur. Die Anstandsstückchen-Situation gibt es beim Tapasessen natürlich ständig. Äußerst gerne würde man sich zum Beispiel das letzte der köstlichen, in Knoblauch-Mayo ertränkten Kartoffelstücke nehmen. Ich erzähle der spanischen Agentin, die mir gegenübersitzt, von meinen deutschen Sorgen, doch sie sieht mich nur verdutzt an und sagt: „Für uns ist das kein Problem, man fragt in die Runde und isst dann einfach oder gibt es einem anderen. Wäre doch blöd, wenn etwas übrigbleibt.“ Aus dem Augenwinkel sehe ich die Kollegin, wie sie mit ihrer Gabel versucht, eine bereits viermal geteilte Anstands-Aioli-Kartoffel zum fünften Mal zu teilen. Abgesehen davon, dass Tapas also eine Therapie für deutsche Anstandsstückchengeschädigte sind, laden sie immer wieder dazu ein, das Gespräch aufzunehmen. Wobei ich bei einem weiteren Vorteil bin: dem Nachbestellen. Kaum hat man Tapas bestellt, schon stehen sie auf dem Tisch. Man fragt sich wirklich, wie das so schnell gehen kann. Deutsche neigen dann dazu, sofort an der Qualität zu zweifeln, aber keine Sorge, sie leidet nicht. Tapas isst man jedenfalls, während man trinkt – Bier oder den hervorragenden spanischen Rotwein … Tapas drängen sich nicht in den Vordergrund, sondern wollen einfach nur dabei sein, des Trinkers seichtes Wanken ein wenig abfedern, ihn sanft am Arm halten, stützen und sagen, trink ruhig noch einen mit, wir sind bei dir, wir unterhalten uns doch gerade so schön mit all den lieben, interessanten Menschen hier am Tisch. Und so wird auch nichts weggeworfen, man bestellt einfach immer wieder ein paar Schälchen nach, je nachdem, wie sich der Abend entwickelt. Keiner wird übersatt oder gar hungrig nach Hause gehen müssen. Wir hatten einen hervorragenden Abend, winken dem Polizisten hinterher, haken uns ein und freuen uns auf einen schönen Nachhauseweg durch die immer noch belebten Gassen Ravals – entlang an vielen Tischen mit vielen nett aussehenden Menschen daran und vielen herrlich duftenden Tapas.
Wer weiter einsteigen möchte, dem empfehle ich das schöne Buch unseres Autors Stevan Paul: Blaue Stunde. Rezepte, die den Abend feiern, Tapas, Antipasti, Mezze, Ceviche & Apéro, das im Brandstätter-Verlag erschienen ist.