Die Philosophie des Singens!

Die Stimme ist unser ureigenes Instrument, und wir haben sie jederzeit bei uns. Sie steht im Zentrum einer Philosophie des Singens, wenn wir uns fragen: Was ist Singen überhaupt? Ist es künstlerischer Ausdruck, Spiegel der Seele oder ein politischer Akt? Was bedeuten cantabile, parlando oder die ganze Stimme, und was können wir für sie tun? Wie singen Tiere? Reicht der Gesang auch bis in die Stille? Welche Rolle spielt er in Nietzsches Philosophie? Und ist es ein Unterschied, gemeinsam im Kneipen- oder Kirchenchor zu singen oder alleine unter der Dusche?
21 Autor*innen schreiben über philosophische, poetische und praktische Aspekte einer Kulturtechnik, die immer auch Teil unseres ganz natürlichen Ausdrucks ist. Seit dem Orpheus-Mythos hat das Singen die Philosophie und Literatur geprägt – und tut es noch heute.

Herausgeberin und Autorin Bettina Hesse singt seit vielen Jahren. Und auch alle Autor*innen, die in diesem Band zu Wort kommen, haben Spaß am Singen, als Philosoph*innen und Literat*innen, als Chorleiter*innen und Sänger*innen, mit Stimmperformance und Weltmusik, auf der Bühne, in der Natur, in der Liturgie oder Musiktherapie, selbst im Duett mit Bienen.

 

Um einen Eindruck des Buches zu gewinnen, zeigen wir Euch hier das Vorwort von Autorin und Herausgeberin Bettina Hesse: 

VORWORT  -  Singen nach Orpheus 

von Bettina Hesse

 

Was ist Singen? Was für eine Frage, wo wir doch unser ureigenes Instrument immer dabeihaben und täglich benutzen: die Stimme.

Mindestens zwölf Mal atmen wir in der Minute, und mit jedem Atemzug könnten wir einen Ton hervorbringen und singen. Jederzeit. Überall. Singen ist unmittelbar, gratis und grenzenlos. Doch wir wollen herausfinden, was es bedeutet, zu singen. Ist es künstlerischer Ausdruck, Spiegel der Seele oder ein Trostmittel? Oder ist es als politischer Akt zu verstehen, als Königsweg zum Selbst? Und wie lässt sich von den ersten Schreien bis zu den letzten Gesängen erzählen? Als körperliche Aktion gehört Singen zu den natürlichen Lebensäußerungen. Dabei gehen Singende nicht nur in Resonanz mit sich selbst und schaffen einen Klangraum, der zum ästhetischen Raum wird, sie gehen auch in Resonanz

mit einer symbolischen Ordnung. Die Philosophie des Singens fragt nach der Bedeutung dieser alten Kulturtechnik, und sogleich öffnet sich ein Feld von überraschender Vielstimmigkeit. Die 21 Autorinnen und Autoren befassen sich in diesem Band mit philosophischen und praktischen Aspekten des Singens und erzählen von dessen mythologischen und poetischen Voraussetzungen. Sie zeigen, was unter cantabile oder parlando zu verstehen ist und warum wir versuchen sollten, die ganze Stimme zu nutzen und erklingen zu lassen. Und sie erzählen vom eigenen Singen, denn damit haben sie alle Erfahrung.

Möglicherweise ist Gesang eine Metapher. Sie verweist auf den Ursprungsmythos, nach dem Orpheus als Vater des Gesangs gilt. Seine Geschichte geht so: Der große Sänger erhält von den Göttern die Erlaubnis, in die Unterwelt zu steigen, um Eurydike, seine geliebte Gattin, aus dem Hades wieder ins Leben zu holen. Unter der Bedingung, sich nicht nach ihr umzudrehen. Während sie an den dunklen Seelen vorbeigehen, wirft er den verbotenen Blick zurück und verliert Eurydike endgültig. Aber sein Gesang lebt fort und berührt die Menschen, selbst nach seinem Tod.

 

 

Mit seiner Rettungsaktion steht Orpheus exemplarisch für die Überschreitung der Grenze zwischen Leben und Tod – ein Erlösungsmotiv. Orpheus rettet die Geliebte nicht, aber den Gesang, und trägt mit dieser ersten Kulturleistung dazu bei, dass Gesang als eine Urform von Kunst angesehen wird. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg schrieb Gottfried Benn das Gedicht Orpheus’ Tod mit den Schlusszeilen:

»… nun schon die Wimper naß / der Gaumen blutet / und nun die Leier /

hinab den Fluß – / die Ufer tönen –.«

Es ist Orpheus’ Gesang, der selbst den Tod des Sängers überdauert – er wird von den Mänaden in Stücke gerissen – während sein Kopf singt und sinkt und nur die Stimme nicht, die auf diese Weise unsterblich wird. Singen bekommt archetypischen Charakter. Seit der Antike, in der Dichtung und Gesang als ein und dieselbe Kunst galt, spielt Gesang eine wesentliche Rolle in der Literatur.

Die Verbindung von Sprache und Klang führt in eine tönende Welt und mit poetischer Notwendigkeit zu einem ganzheitlichen künstlerischen Denken. Die Romantiker wie Hölderlin, der sich den Gesang als endlosen wünscht, oder Karoline von Günderrode – sie lässt in ihrem Gedicht Die Töne melodisch aus der Stille dringen –, empfinden die anthropologische Bedeutsamkeit des Singens, bis hin zu Eichendorff, neben Goethe und Heine der meistvertonte deutsche Dichter, mit seinem berühmten Gedicht Wünschelrute: … Schläft ein Lied in allen Dingen. Und Rilke erhebt nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs den Gesang zum philosophischen Prinzip: Die Sonette an Orpheus betonen das orphische Prinzip als Erfahrung des Dunkels und die metaphysische Kraft des Singens, die das Leben durchdringt:

Gesang ist Dasein.

 

 

Eine genuine Philosophie des Singens gibt es nicht. Doch die Beiträge in diesem Band gehen den unterschiedlichsten Denkpositionen

nach. Mit seiner Suche nach einer Philosophie des Singens zeigt Ralf Peters im Eingangstext auf, warum das Singen seit Platon philosophisch kaum wahrgenommen wurde und erst in Nietzsches und Rilkes Denken größere Bedeutung erlangt. Als singender Philosoph steht er dafür ein, dass Gesang nur dann in einem umfassenden Sinn verstanden werden kann, wenn er auch praktiziert wird. Das umfassende Verständnis von Singen geht auf den anthropologischen Ansatz von Alfred Wolfsohn und seinem Schüler Roy Hart zurück, mit dem sie die Idee einer Stimmentwicklung zur ganzen Stimme begründeten. Ralf Peters, selbst Roy-Hart-Lehrer, und einige der Autorinnen fühlen sich dieser Stimmarbeit verbunden und lassen es in ihren Texten anklingen. In der Praxis bedeutet Singen, die Stimme zu benutzen. Sie befindet sich an der Schnittstelle von Körper und Sprache und ist einerseits Organ, aber andererseits so flüchtig wie der Luftstrom, auf dem der gesungene Ton reist. Jedes Lied braucht einen Körper, und jeder Körper sollte in seinem künstlerischen Tätigsein anerkannt werden, wie Lisa Pottstock in ihrem Beitrag betont und damit die politische Dimension des Gesangs in den Blick nimmt. Über das Wesen der Stimme im Verlauf unseres Lebens schreibt Alexandra Naumann, und Maximilian Probst zeigt musikalisch die Doppeldeutigkeit von Stimme erheben innerhalb fragiler demokratischer Prozesse. Dass Literatur einst gesungen vorgetragen wurde und was das Singen für das eigene Schreiben bedeutet, erläutert Angela Steidele. Ein veritables philosophisches Parlando führt uns Volkmar Mühleis vor, während Mariana Sadovska von den weißen Gesängen ihrer Heimat Ukraine erzählt und Ernesto Pérez Zúñiga vom Daimon im Flamenco. Ja, sogar die Tiere singen. Walgesänge sind allgemein bekannt, die Minne der Fledermäuse weniger, aber warum Bienen einen faszinierenden Wechselgesang anstimmen, davon berichtet Jeanette Zippel. In vielen Beiträgen sind die eigenen Erfahrungen in der Praxis des Singens tonangebend: Sie reichen vom Singen als Gratwanderung auf dem Weg zur Freiheit, der musiktherapeutischen Arbeit bis zum gelungenen Songschreiben und Chorleiten. Vier Stimmen erzählen vom Chorgesang und wann er glücklich macht, ob in der Kneipe, im Pop-Chor oder beim Erleben der Klangqualität im resonierenden Raum. In der religiösen und spirituellen Praxis nimmt der gemeinsame Gesang von jeher einen festen Platz ein, wie es hier im liturgischen Kontext von Josef-Anton Willa beschrieben wird. Das Singen hat in dem Zusammenhang nicht den performativen Charakter einer Aufführung, es bleibt bei sich. So reicht der Gesang bis in die Stille. Atmen, unsere erste, existenzielle Äußerung, liegt dem Singen zugrunde. Und die singende Bewegung verbindet im Singen innen mit außen und bringt zwei unterschiedliche Prinzipien in Einklang. Wie eng Hören, Singen und Stille miteinander verbunden sind, versuche ich in meinem Text Das Schweigen der Sirenen zu ergründen. Und Monika Buschey greift Orpheus’ Geschichte auf und gestaltet sie als Monolog der Eurydike. Als Einstimmung galt das Gedicht Und überall können wir singen von Marie T. Martin, mit Singen und Stille lässt Markus Stockhausen den Reigen ausklingen.

 

Seit dem Orpheus-Mythos hat Singen die Literatur und Philosophie geprägt – und tut es noch heute. Welche erstaunlichen Klangfarben das Singen annehmen kann, davon erzählt dieser Band. Wir möchten Sie dazu ermuntern, dieser einfachen und wesentlichen Lebensäußerung mehr Raum zu schenken, denn jeder Stimmklang ist Gesang.

Also, worauf warten Sie noch?

»Die Philosophie des Singens«

Sachbuch

Herausgegeben von Bettina Hesse 

ISBN 978-3-938539-55-2

22,- Euro 

 

Mit Beiträgen von:

Ralf Peters, Jeanette Zippel, Volkmar Mühleis, Alexandra Naumann, Lisa Pottstock, Maxi­milian Probst, Angela Steidele, Mariana Sadovska  Ernesto Pérez Zúñiga, Konrad Heiland, Bettina Wenzel, Julia Hagemann, Nika Bertram, Ute Almoneit, Josef-Anton Willa, Maria Gorius, Monika Buschey, Markus Stockhausen, Marie T. Martin, Simon Rummel, Bettina Hesse 


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