"Keiner weiß mehr": Rolf-Dieter-Brinkmann-Stipendium an Dorian Steinhoff

In Düsseldorf den "Kölner Stadtanzeiger" lesen: Kann man mal machen.
In Düsseldorf den "Kölner Stadtanzeiger" lesen: Kann man mal machen.

Am 22.10.2014 wurde Dorian Steinhoff im Literaturhaus Köln das Rolf-Dieter-Brinkmann-Stipendium verliehen. Zur Preisverleihung musste Dorian eine Rede halten, und "eine Rede halten", das ist auch für einen Autor keine leichte Aufgabe. Vor allem dann nicht, wenn man noch nicht einmal ein Buch des namenstiftenden Autors gelesen hat. Dorian hat sich also den einzigen Roman von Rolf Dieter Brinkmann* vorgenommen, "Keiner weiß mehr", und ein Lesetagebuch geschrieben - als Dankeschön an die Verleiher und als Hommage an Rolf-Dieter Brinkmann. Dieses Lesetagebuch gibts jetzt hier nochmal in voller Länge:

Keiner weiß mehr

Lesetagebuch von Dorian Steinhoff

 

„Fantasie macht die Gegenwart verständlicher, offener, gegen den Schmand der gelebten Formulierung.“ Rolf-Dieter Brinkmann


Vielen Dank, liebe Stadt Köln, dass Du mir mit diesem Preis Zeit und Raum für Fantasie ermöglichst. Danke.

               

Mittwoch, 15.10., 9:34 Uhr

Eine Woche Brinkmann lesen, den einzigen Roman, „Keiner weiß mehr“ und dabei aufschreiben, wie es ist. Das erscheint mir angemessen, um an diesen als Genie der BRD-Nachkriegsliteratur geltenden Dichter bei der Preisverleihung im Literaturhaus zu erinnern und gleichzeitig eine persönliche Auseinandersetzung zu liefern, mich mit seinem Text in ein Verhältnis zu setzen.

Hoffentlich gefällt mir der Roman, sonst könnte das hier ziemlich in die Hose gehen.

 

Donnerstag, 16.10., 23:03 Uhr

Ich trage Jogginghose und weißes Unterhemd. Ich höre Tom Waits, Mule Variations, liege auf dem Bett und beginne für heute die Brinkmann-Lektüre. Der Single Malt bleibt in der Küche, etwas muss immer fehlen, um genießen zu können.

Auf dem Umschlag meiner Ausgabe von „Keiner weiß mehr“ steht: „Brinkmanns Schriften formulieren das Lebensgefühl einer Generation, die der Faszination von Beat, Film und Mode erlegen ist.“ Nach meinem Eindruck, nach 38 gelesenen Seiten, müsste es passender „das Lebensgefühl einer Männergeneration, die der Faszination für Frauen, Brüste und primäre Geschlechtsteile erlegen ist“ heißen: Allerdings, welche Männergeneration kann sich davon freisprechen und welcher Klappentext davon, nicht die Wahrheit zu sagen. Es klingt übrigens so:


„Zwei ältere Männer, schweigend dicht nebeneinandergestellt vor den wannenförmig abgeteilten Porzellanbecken, starr aufgerichtet und einander etwas in den offenen Hosenschlitz mit den aus der Hose herausgezogenen steifen Stummeln zugedreht, ohne sich zu bewegen bis auf die kaum sichtbare zupfende Bewegung der Finger unten auf und ab, mit der sie vorsichtig die Vorhaut weich über den angeschwollenen Kopf und kranzartige Absetzung in steter Gleichmäßigkeit vor- und zurückschoben, […]“


Mal sehen, wie es weitergeht, von mir aus kann es so bleiben, ich bin passend gekleidet.

 

Freitag, 17.10., 15:23 Uhr

Bin gestern noch bis Seite 78 gekommen. Ich lese langsam, die Sätze sind bandwurmartig lang, Brinkmann erzählt alle Rahmenschilderungen in Nebensätzen und Einschüben. Außerdem scheint er pedantisch genau darauf bedacht gewesen zu sein, dass keine Formulierung, keine Beschreibung, am besten gar nichts vom Leser missverstanden werden könnte. Auf Ergänzung folgt Ergänzung, folgt Erklärung, folgt verdeutlichende Metapher, folgt hinten angesetztes Adjektiv, folgt noch ein Komma, irgendwann ein Punkt.


„Die anderen waren schon deshalb reizvoller, weil sie nicht seine Frau waren, keines der Mädchen dort drüben oder das Mädchen bei ihnen am Tisch, aber nicht nur deswegen in dem Moment für ihn hübscher als sie neben ihm und dann doch nur wieder deswegen, dachte er, als er nachher wieder mit ihr in der Wohnung war, zusammen im Badezimmer, müde verschwitzt, und noch etwas von ihr wollte, das, was er vorher im Musikkeller an den meisten anderen Mädchen mehr zu sehen geglaubt hatte, etwas anderes, mehr als eben an ihr, seiner Frau, die jetzt vor ihm am Waschbecken stand und das Gesicht vorgestreckt hielt […]“


Und so weiter. Der Punkt folgt erst eine halbe Seite weiter unten. Er macht mir das etwas zu oft so. Weil: eigentlich die ganze Zeit. Ach ja, es geht übrigens um Gerald und Rainer, Rainer hat Frau und Kind, das Kind ist sehr klein, ein Säugling, neugeboren, es kann noch nicht sprechen und Rainer ärgert das.


„[…] das Kind musste jetzt endlich sprechen lernen, es war schon so groß und konnte immer noch nicht richtig sprechen, kein Wort, nur Laute, naß gelallt, lala, lalalala, verseibert.“


Ich schweife oft ab beim Lesen. Es ist ein wenig so, als ob einem jemand in der Küche gegenübersitzt, ein näherer Bekannter, kein richtiger Freund, und ununterbrochen redet, richtig schwallt, Frau, Kind, Penis, Sperma, Tanzen, Schuhe im Schaufenster gesehen, diese alten Leute, Bürger, alle widerlich, die jüngeren: Kuscher. Und genauso, wie man sich so jemandem gegenüber sitzend ans Zuhören erinnern muss und ab und zu, Aufmerksamkeit versichernd nickt, „hmhm“ und „ja, verstehe“ sagt, so muss ich beim Lesen auch immer wieder an mich appellieren: Aufpassen jetzt. Das ist nämlich alles andere als geschwätzig, diese Prosa, das ist richtig gut, das groovt, das hat Beat und ein wahnsinniges Tempo. Man merkt das, wenn man Passagen laut vorliest.

Wie Brinkmann es schafft, zu artikulieren, wie sich ein Erlebnis in dem Moment anfühlt, in dem man es erlebt, an den besten Stellen sogar nur mit sprachlichen Mitteln spiegelt, wie man erlebt, wie unbegreiflich die erlebte Gegenwart ist, wie er das hinkriegt, das ist schon ziemlich gut. Ich verstehe nur nicht, warum er im Präteritum schreibt. Präsens wäre passender.

 

Samstag, 18.10., 23:26 Uhr

Reaktionen vom Menschen, denen ich Passagen vorgelesen oder zum Lesen hingehalten habe:


A: „Boah ey, da hab ich nach drei Zeilen schon kein Bock mehr. Vielleicht bin ich aber auch schon zu müde.“

B: „Gefällt mir gut.“

C: „Also, zum Literarischen Sommer hätte ich den nicht eingeladen.“

 

Sonntag, 19.10., 13:13 Uhr

Im Feuilleton der Wochenend-SZ feiert Jens-Christian Rabe den inszenierten Dokumentarfilm „20.000 Days on Earth“ von und über Nick Cave. Er ist ganz aus dem Häuschen, ich werde diesen Film auf jeden Fall anschauen, wollte ich aber auch schon, bevor ich den Artikel gelesen hatte. Jedenfalls, er zitiert aus dem Film, Cave sagt wohl: „Wer kennt schon seine eigene Geschichte? Sie ergibt gewiss keinen Sinn, während wir sie erleben. Da ist nur Chaos und Geschrei. Es wird erst eine Geschichte, wenn wir sie uns wieder und wieder erzählen.“

Ungefähr nach diesem Prinzip funktioniert „Keiner weiß mehr“. Brinkmann wusste genau wie Cave, dass das Jetzt ein großer Matsch ist, zusammengesetzt aus Chaos und Geschrei, aus unzähligen Sinneseindrücken. Überblicken können wir nur, was wir von ihm erzählen, uns selbst und allen anderen. Die Eindrücke denkend und redend ordnen. Dieser Matsch ist dann trotzdem in allem, in unseren Wörtern und Gedanken, sie sind aus ihm gemacht; und wie wir damit umgehen, welche Geschichten wir erzählen und ob wir sie aufrichtig erzählen, davon hängt ab, welche Spuren sie auf unseren Gesichtern zurücklassen, davon hängt ab, wer wir sind. Gerald und Rainer kämpfen sehr um Spuren der Schönheit. Und scheitern natürlich ständig.

Letzte gelesene Szene: Ein Streit zwischen Rainer und seiner Frau. Die Dramaturgie einer Stellvertreter-Auseinandersetzung. Es geht um gar nichts, da ist kein akuter Konflikt und trotzdem geht es natürlich um alles, um all das, was nicht aussprechbar ist, weil es ausgesprochen das Ende bedeuten würde, und das Ende, das ist noch schlechter zu ertragen als der Streit. Es ist die pure Verzweiflung. Also schreit Rainer, er schreit: „Hau ab!“ und dann muss er lachen und weiß am Ende gar nicht mehr, warum sie gestritten haben, und so sitzen sie dann erschlafft und mutlos am Küchentisch. Brinkmann lässt sie da einfach sitzen, zu zweit, alleine und beschmutzt, vor und von der Unfassbarkeit der Welt. Groß!  

 

Sonntag, 19.10., 17:31 Uhr

Ich würde gerne mehr prägnante Zitate aus „Keiner weiß mehr“ in das Lesetagebuch einflechten, aber es geht nicht, die Sätze sind zu lang. Ich habe ein Platzproblem, würde ich dem Primärtext den Raum einräumen, den ich brauche, könnte ich alles andere gleich weglassen und einfach ein paar Gedichte rezitieren. Einfacher und zeitsparender wäre es allemal.

 

Montag, 20.10., 23:09 Uhr

Habe heute bisher nur zehn Seiten im Zug gelesen, auf dem Weg nach Köln. Ob Rainer jetzt getrennt von seiner Frau lebt oder es sich nur vorgestellt hat, weiß ich nicht, ich habe es nicht mitbekommen. Vermutlich habe ich die Stelle überlesen, als neben mir gleichzeitig drei Leute telefonierten.

Voller Tag heute. Interview- und Foto-Termin, danach die neue Kolumne für den SWR einlesen. Zurückfahren, Erledigungen, Mails abarbeiten, Buchhaltung 3. Quartal 2014. Morgen lobt mich mein Steuerberater. Ich habe fast vergessen zu essen. Brinkmann hätte an meiner Stelle jetzt wahrscheinlich schlechte Laune. Ich bekomme einen Schnupfen.

Ich werde versuchen noch ein bisschen weiterzulesen.

 

Dienstag, 21.10., 0:18 Uhr

Hat nicht geklappt. Ich musste telefonieren, einem wichtigen Freund geht es im Moment nicht so gut.

 

Dienstag, 21.10., 13:26 Uhr

Den Vormittag schon wieder mit Büroarbeit verbracht. Der Oktober ist immer ein fieser Monat. Jedes Jahr, es läuft immer gleich: Unglaublich viele Termine. Und gleichzeitig muss man schon die Konzepte, Verträge, Anträge und Bewerbungen für das erste Halbjahr des Folgejahres erdenken, schreiben und wegschicken. Jetzt muss ich zu einem Interview mit einer Redakteurin von WDR5 Scala. Heute Abend dann eine Lesung in Dortmund. Und bei all dem habe ich dieses miese Gefühl im Rachen, mit dem sich eine Erkältung ankündigt. Durchhalten. Im Zug weiterlesen.

 

Mittwoch, 22.10., 13:11 Uhr

Heute. Preisverleihung. Und es nimmt kein Ende, E-Mail, Anrufe, Stress. Und was ziehe ich nachher eigentlich an? Habe gestern im Zug kaum weitergelesen, bin zwei Mal eingeschlafen, und richtig hochgeschreckt, als der Zug in Bochum hielt. Ich hatte Kopfweh und vielleicht schon etwas Fieber. Dabei wird es grade richtig gut, die Auseinandersetzung zwischen Rainer und der Frau, die Schilderung einer großen Beziehungskrise nach der Geburt des ersten Kindes. Gefällt mir sehr gut. Obwohl ich immer noch nicht verstehe, warum Brinkmann der Sprache so misstraut. Alles ist durchzogen davon, das ganze Buch kann man als großen Kampf gegen die Ungenauigkeit der Sprache lesen, dagegen, nicht sagen zu können, was man sagen will und muss. Für den Leser ist das anstrengend, als ästhetisches Konzept für Prosa ist es sehr interessant. Den ganzen sprachskeptischen Lyrikern würde das sicher sehr gut gefallen. Ich werde Tristan morgen in München davon erzählen.

Von der lieben Veranstalterin in Dortmund bekam ich ein pflanzliches Mittel zur Aktivierung der Abwehrkräfte und Erkältungstee. Ich scheine durchzuhalten.

 

Mittwoch, 22.10., 16:42 Uhr

Ich habe es nicht geschafft. Ich habe nicht geschafft „Keiner weiß mehr“ in einer Woche zu lesen und darüber zu schreiben. Es war einfach zu wenig Zeit. Vielleicht bringt mich das Brinkmann aber auch so nah, wie es überhaupt geht. Hatte er doch wirklich viel zu wenig Zeit für alles. Viel zu wenig Zeit.


*Rolf Dieter Brinkmann (* 16. April 1940 in Vechta; † 23. April 1975 in London). Ab 1962 in Köln. Wir alle im mairisch Verlag sind große Brinkmann-Fans und empfehlen neben dem Roman "Keiner weiß mehr" unbedingt auch die Materialbände "Rom, Blicke" und "Schnitte" sowie seine Lyrik "Piloten" und "Westwärts 1 & 2". Alle Bücher sind im Rowohlt-Verlag erschienen.



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