Alles eine Frage des Stils? - Eine kleine Reise in die 140-jährige Vergangenheit des Sportkletterns

von Eva Hammächer

»Deine Leistungen im Klettern sind weit weniger bedeutend als das, was du in diesem Entwicklungsprozess lernst – nicht was, sondern wie du etwas kletterst, zählt!«(Fussnote 1) - Lynn Hill

Klettern ist eine der archaischsten Bewegungsformen überhaupt. Seit Jahrtausenden steigen Menschen auf Berge, erklimmen Felswände und tun dies bis heute. Auch wenn die Faszination für die Berge über die Jahre nicht spurlos an diesen vorüberging, so stehen die hohen Wände heute noch weitestgehend unverändert da. Gewandelt haben sich jedoch über die Jahrzehnte Motive, Regeln, Stile und Spielformen, sich diesen Wänden zu nähern. Dieser philosophische Unterbau des Kletterns unterliegt dem gesellschaftlichen Wandel und spiegelt somit immer auch den Geist der jeweiligen Zeit. Und da es im Wesen des Menschen liegt, sich ständig weiterzuentwickeln, wurden im Laufe der vergangenen Jahrzehnte an den Felswänden dieser Welt unzählige persönliche Berge versetzt – von denen einige zu Meilensteinen des Klettersports geworden ­sind. ­

Der Weg ist das Ziel!

Bergsport hat viele Facetten: Sie reichen vom einfachen Bergwandern bis hin zu Expeditionen auf die höchsten Gipfel dieser Erde. Im Fokus dieser kleinen Reise in die Vergangenheit steht jedoch eine eher junge Spielform des Bergsports: Die des Frei- bzw. Sportkletterns. Wird die Geburtsstunde des Alpinismus bereits im 14. Jahrhundert verortet, als der italienische Dichter Petrarca 1336 erstmals den Mont Ventoux aus reinem Selbstzweck bestieg, so führt die Suche nach der Wiege des Freikletterns auf direktem Wege ins Elbsandsteingebirge des 19. Jahrhunderts. Im klassischen Alpinismus war noch der Gipfel das Ziel und der Fels nur eines von vielen zu überwindenden Hindernissen. Für die sächsischen Freikletterer wurde erstmals der Weg zum Ziel und die Schlüsselstelle zum neuen Gipfelkreuz. Mit der Besteigung des Matterhorns 1865 endete das Goldene Zeitalter des Alpinismus. Wichtiger als die Frage, wo man hinaufgestiegen ist, wurde von nun an die Frage, wie man dort hinaufgekommen war.

Das Elbsandsteingebirge: Wiege der Freikletterkultur

Die imposanten Türme des sächsischen Elbsandsteingebirges zogen die Menschen schon früh auf ihre Gipfel. 1864 erklomm eine Turnergruppe aus Bad Schandau den Falkenstein – erstmals in der Geschichte des Kletterns aus rein sportlichen Motiven. Sie verwendeten jedoch noch künstliche Hilfsmittel wie Leitern. Aus diesem Grund gilt die Besteigung des Mönchsteins im Jahre 1874 durch Otto Ewald Ufer und seinen Begleiter H. Frick als die eigentliche Geburtsstunde des Freikletterns. Die beiden verzichteten bewusst auf Hilfen wie Steigbaum, Leiter oder Spitzhacke. Technische Hilfsmittel durften nur zur Sicherung und nicht zur Fortbewegung eingesetzt werden. Eine Route musste nach dieser neuen Ethik nur durch die eigene Körperkraft bewältigt werden. Auch der österreichische Alpinist Paul Preuß plädierte in seinen 1911 niedergeschriebenen Klettergrundsätzen für einen Verzicht auf künstliche Hilfsmittel bei der Besteigung eines Berges und war damit ein weiterer geistiger Vater des Freikletterns.


Der sportliche Ehrgeiz an den sächsischen Felsen wuchs, und um die Leistungen vergleichen zu können, entstanden erste Spielregeln und eine erste Schwierigkeitsskala: 1893 stellte der Sachse Oscar Schuster seine dreistufige Schwierigkeitsskala vor. Zwanzig Jahre später veröffentlichte der Jurist Rudolf Fehrmann mit der zweiten Auflage seines Kletterführers für die Sächsische Schweiz verbindliche Kletterregeln, die den Verzicht auf künstliche Hilfsmittel zur Fortbewegung am Fels festschreiben: Geklettert werden durfte demnach nur an natürlichen Haltepunkten; Veränderungen an der Felsoberfläche und das Schlagen von Sicherungsringen (außer bei Erstbegehungen) waren nicht erlaubt. Mit geringfügigen Veränderungen gelten diese Regeln im Elbsandstein bis heute. Mit einem sehr strengen Regelwerk (kein Magnesia, keine mobilen Sicherungsgeräte, Klettern nur an frei stehenden Türmen …) und einer eigenen Bewertungsskala nehmen die Sachsen bis heute eine Sonderstellung ein.

Die revolutionären Siebziger: Freies Klettern und freie Liebe im Yosemite

Eine zentrale Figur im Elbsandstein war der Dresdner Bergsteiger Fritz Wiessner. Ihn zog es im Zuge der Weltwirtschaftskrise 1929 in die USA, wo er das sächsische Gedankengut in den amerikanischen Klettergebieten verbreitete. Damit legte er den Grundstein für die Entwicklung des Freikletterns im kalifornischen Yosemite Valley, in dem in den Siebzigern Klettergeschichte geschrieben wurde. Dominierten hier in den Fünfziger- und Sechzigerjahren noch technische Klettereien an den majestätischen Big Walls von Half Dome oder El Capitan durch Protagonisten wie Royal Robbins oder Warren Harding, so entwickelte sich in den Siebzigerjahren auf dem legendären Zeltplatz Camp 4 eine eigene lebendige Hippie-Szene, die einen lockeren Lebensstil kultivierte und von der Hand in den Mund lebte. Das bürgerliche Establishment betrachtete die Aussteiger auf Zeit mit Skepsis: Kletterer galten »als Spinner und Psychopathen. Ihr Lebenswandel muss den meisten Uneingeweihten in der Tat seltsam vorgekommen sein. Immer wieder hängten sie Jobs und Karrie­ren an den Nagel, nur um ins Valley zu ziehen und dort zu klettern.« (FN2)


Einer der Camp-Protagonisten, John Long, erinnert sich: »Während der Siebzigerjahre stand das Camp 4 für alles, was illegal war – inklusive seiner Bewohner. Den ganzen Sommer über ließ sich nicht ein einziger Ranger blicken. Sie hatten etwas Besseres zu tun, als ein Lager voller Penner zu durchstöbern. Penner, die nichts anderes im Hirn hatten, als herumzulungern und zu klettern. Oft wurde es sogar als das Lager der Aussätzigen bezeichnet. Wer die Ausrüstung, das Nervenkostüm und keine Zukunft hatte, gehörte dazu.« (FN3) Mit langen Haaren, Stirnband, weißen Marinehosen oder abgeschnittenen Jeans und nacktem Oberkörper dis­tanzierten sie sich von den Kniebundhosen und roten Kniestrümpfen der traditionellen Bergsteiger. Mit ihrem Lebens- und mit ihrem neuen Kletterstil verkörperten sie die Werte der Achtundsechziger-Generation, Freiheit und Individualität, bis zur Perfektion.


So easy-going ihr Lebenswandel jenseits der Felswand war, so leistungsorientiert und konkurrenzbetont waren sie, wenn es um das Durchsteigen von Routen ging. Auch den deutschen Alpinisten Reinhard Karl zog es zusammen mit Helmut Kiene in den Siebzigern ins Tal. Er beschrieb Leben und Tagesablauf der Camp-Bewohner folgendermaßen: »Jeder hier nimmt irgendeinen Stoff, um high zu werden, mindestens Marihuana. Die meisten verbringen hier den ganzen Sommer. Faul sein ist hier eine wesentliche Voraussetzung, um ein guter Kletterer zu werden. Die fünf Lebensregeln, mit denen sie den Tag knacken, sind in der Reihenfolge der Wichtigkeit: 1. Klettern, 2. Sonnenbaden, 3. Essen, 4. Drogen, 5. Frauen. Das Wort Arbeit kommt nicht vor.« (FN4) Die beiden Alpinisten reimportierten den Freiklettergedanken nach Europa und kletterten 1977 mit den Pumprissen am Fleischbankpfeiler im Wilden Kaiser die erste frei gekletterte Route im siebten Grad in den Alpen. Damit sprengten sie die seit 1923 geltende sechsstufige Welzenbach-Skala, die bis dahin den oberen sechsten Grad als absolute Grenze des Menschenmöglichen vorsah. Ein Jahr später wurde die Skala den Realitäten angepasst und nach oben geöffnet. Die Amerikaner waren in dieser Hinsicht fortschrittlicher und hatten schon früher ein nach oben offenes Bewertungssystem.
Die neue Kletterer-Generation im Yosemite ließ einfach die Ethik des Technokletterns mit künstlichen Hilfsmitteln hinter sich und pushte dafür die Limits – bewaffnet mit Chalk, den neuen EB-Kletterschuhen mit Reibungssohle, Nylon- statt Hanfseilen, Hüftgurt statt Alpinisten-Kombigurt und den von Royal Robbins und Yvon Chouinard aus England importierten Nuts – speziellen Klemmkeilen für Risse. Galt zuvor die Devise »Auf keinen Fall stürzen!«, stieg mit der materiellen Aufrüstung die Sturzbereitschaft und damit auch das Kletterniveau. Die Freikletterrevolution hatte Einzug gehalten. Der Onsight war das höchste Gut, das Ausbouldern von Routen dagegen Betrug. Stürzte man, wurde man zum Boden abgelassen und musste wieder von vorne anfangen (Yo-yo-ing). Mitte der Siebziger kam es zu einer wahren Leistungsexplosion im Yosemite. Die herausragenden Leitfiguren im Valley waren zu diesem Zeitpunkt Ron Kauk und John Bachar. Kauk eröffnete und kletterte die schwierigsten Routen im Valley, darunter den weltberühmten Boulder Midnight Lightning (Fb 7b+, 1978) am Columbia Boulder mitten im Camp 4. Auf sein Konto geht auch die Route Separate Reality (8+, 1977), ein spektakuläres, sechs Meter ausladendes Rissdach, 200 Meter über dem Boden, das damals nicht nur eine der schwersten Routen der Welt war, sondern Ausdruck einer neuen Klettergeneration. Bachar machte vor allem mit spektakulären Free-Solo-Aktionen auf sich aufmerksam. Beide zusammen trieben das Schwierigkeitsniveau innerhalb kurzer Zeit bis in den neunten Grad (UIAA).


Die Siebziger in Deutschland: Ein roter Punkt erobert die Welt

Auch in Deutschland war der Klettersport mittlerweile aus dem Dornröschenschlaf erwacht: Kurt Albert reiste 1973 ins Elbsandstein, wo Bernd Arnold zu der Zeit die Szene unangefochten dominierte. Angesichts des dort vorherrschenden hohen Niveaus kam Albert zu dem Schluss, dass das technische Klettern langfristig in eine Sackgasse führen musste. Daraufhin versuchte er, bis dahin technisch gekletterte Routen in seiner Heimat im Nördlichen Frankenjura frei zu klettern. Ab 1975 markierte er jede Route, die er frei begangen hatte, mit einem roten Punkt: »Ein roter Punkt am Beginn eines Kletterweges oder einer Variante bedeutet, dass es möglich ist, den Anstieg ohne Benutzen der Haken als Griffe oder Tritte oder Benutzen sonstiger Hilfsmittel, die der Schwerkraft entgegenwirken, in freier Kletterei zu bewältigen.« (FN6) Anders als beim a.-f.-Stil (a. f. = alles frei) der Sachsen durfte jedoch nicht an den Sicherungspunkten geruht werden. Der rote Punkt revolutionierte die gesamte Freikletterszene und trieb das Kletterniveau weiter nach oben: Bereits 1977 hatte Kurt Albert mit den Routen Osterweg und Der Exorzist im Frankenjura das Tor zum unteren achten Grad aufgestoßen – auch wenn es diesen Schwierigkeitsgrad in der Bewertungsskala zu diesem Zeitpunkt offiziell noch gar nicht gab.

Die Achtziger: Generation X

Die Achtzigerjahre waren nicht nur in modischer Hinsicht herausragend: So reisten Kurt Albert und der Pfälzer Wolfgang Güllich Ende der Siebziger ins Elbsandstein und ins Yosemite, um dort in den damals üblichen hautengen Leggings die schwierigsten Routen zu bezwingen. Das im Tal vorherrschende Leistungsniveau beeindruckte die beiden nachhaltig und inspirierte sie zu systematischem Training: In ihrer Wohnung in Oberschöllenbach richteten sie sich eine kleine Folterkammer mit Hanteln, Reckstangen, Leisten und Griffbrettern ein. »Viel hilft viel!«, lautete die Devise. »Morgens um 9 Uhr zogen wir 200 Klimmzüge, danach gingen wir acht Stunden an die Felsen und zogen am Abend nochmal 200 Klimmzüge. Das führte ziemlich konsequent zum Übertraining« (FN7), erinnert sich Kurt Albert. Die Schwierigkeitsgrade fielen wie Dominosteine, die liberalere Kletterethik im Westen Deutschlands führte dazu, dass die Amerikaner und auch die Sachsen schnell ihre Vormachtstellung verloren: 1981 kletterte Kurt Albert mit Sautanz an den Oberen Gößweinsteiner Wänden die erste Route in Deutschland im unteren neunten Grad. Im gleichen Jahr reiste die internationale Kletterelite nach Deutschland zum Konsteiner Kletterfestival, dem »Woodstock des deutschen Kletterns« (FN8), um die härtesten Routen im Frankenjura zu knacken, darunter Chasin the Trane am Krottenseer Turm, mit glatt neun die damals schwerste Route im Frankenjura. Kurz darauf bekam Güllich Besuch von dem schillernden Briten Jerry Moffatt, der mit The Face im Altmühltal die erste Route im unteren zehnten Grad weltweit kletterte. Auch Frankreich entwickelte sich – auch aufgrund seiner liberaleren Kletterethik – in den Achtzigern zu einer der führenden Sportkletternationen. Protagonisten wie Patrick Edlinger, die Gebrüder Le Menestrel oder Catherine Destivelle hinterließen ihre Spuren in den historischen Gebieten Buoux, Céüse oder dem Verdon, wo damals die schwersten Routen Frankreichs entstanden.


In den kommenden Jahren sorgte jedoch vor allem einer dafür, dass die Grenze des Menschenmöglichen immer weiter nach oben verschoben wurden: Ausnahmetalent Wolfgang Güllich. 1984 kletterte er mit Kanal im Rücken im südlichen Frankenjura die erste Route im glatten zehnten Grad, getoppt von Punks in the Gym (10+) am Mount Arapiles in Australien ein Jahr später. Aufsehen erregte auch seine Free-Solo-Begehung von Ron Kauks Separate Reality im Jahre 1986. Mit Wallstreet eröffnete er 1987 am Krottenseer Turm erstmals den unteren elften Grad. Den Höhepunkt seiner Kletterkarriere bildete aber der Durchstieg der von Milan Sykora am Waldkopf im Krottenseer Forst eingebohrten Route Action Directe im Jahre 1991, dem ersten glatten Elfer weltweit – nach elf Tagen am Fels und monatelangem Fingerloch-Training am Campus-Brett. Ein Jahr später verstarb Güllich tragisch an den Folgen eines Autounfalls. Er war einer der besten und einflussreichsten Kletterer seiner Zeit und wurde zur Ikone einer ganzen Generation. Er war die Inkarnation des Sportkletterns der Achtzigerjahre und schaffte es quasi im Alleingang, das internationale Kletterniveau innerhalb eines Jahrzehnts um zwei Schwierigkeitsgrade anzuheben. Für ihn wie für viele seiner Sparringspartner waren jedoch Kletter-Philosophie, Ethik und Trainingslehre mindestens genauso wichtig wie das eigentliche Klettern. In zahlreichen Aufsätzen und Artikeln schrieben Güllich und seine Zeitgenossen ihre Auffassung vom High-End-Klettern nieder. Eine derartige theoretische Durchdringung des Klettersports durch die Haupt-Protagonisten sollte es danach so nicht mehr geben.

Die Neunziger: Generation Plastik

In den Neunzigern bereicherten Leggings in schrillen Farben die Klettergebiete – und nicht nur die, denn neben Tennishallen schossen nun auch Kletterhallen wie Pilze aus dem Boden. Der Bau künstlicher Kletteranlagen seit Mitte der Achtzigerjahre schuf völlig neue Trainingsmöglichkeiten und legte den Grundstein für eine neue Entwicklung im Klettersport: Klettern wurde zum Breitensport und hielt Einzug in die Gesellschaft. Aus einem Haufen Freaks bildete sich ein sportlicher Trend: Die Hallen zogen eine breitere Zielgruppe an, die sonst nicht unbedingt den Weg an den Fels gefunden hätte. Der Sport wurde immer populärer und professioneller und ließ auch die Bergsportindustrie auf den rasant fahrenden Zug aufspringen. Es entstanden neue Kletter-Marken, die Ausrüstung wurde immer leichter, bequemer und sicherer.

Durch gezielte Trainingsmöglichkeiten zu jeder Zeit und bei jedem Wetter konnte die Kletterelite ihr Niveau weiter steigern, was als logische Konsequenz die ersten Kletterwettkämpfe nach sich zog – anfangs noch am Fels, dann am Plastik: 1987 wurden Lynn Hill und Stefan Glowacz an den Felsen von Arco zu den ersten Rockmastern gekürt. 1991 fand in Frankfurt – mittlerweile an der Kunstwand – die erste Sportkletter-WM statt, aus der der Franzose François Legrand als erster Weltmeister im Leadklettern hervorging. Ab 1989 fanden erste Kletterweltcups im Leadklettern statt und ab 1998 auch in den Disziplinen Bouldern und Speed.


Vor allem das Bouldern, das seilfreie Klettern in Absprunghöhe, erfuhr in den Neunzigern eine explosionsartige Entwicklung und wurde von einer Trainingsform zu einer eigenständigen Kunstform. Seine Ursprünge reichen bis in die Zwanzigerjahre in die Wälder von Fontainebleau zurück, wo die sogenannten Bleausards die dort verstreuten Sandsteinblöcke bestiegen. Maßgeblich entwickelt wurde der Sport aber vor allem in den Fünfziger- und Sechzigerjahren durch den Amerikaner John Gill, den Vater des modernen Boulderns. Er übertrug Techniken und Trainingsmethoden des Turnens auf das Klettern und machte dynamische Züge salonfähig. In den Neunzigern entwickelte sich eine eigene Boulder-Szene, die man nicht nur an ihren Crashpads erkannte, sondern auch an den weiteren Hosen, Daunenjacken und der Tatsache, dass auch bei hochsommerlichen Temperaturen mit nacktem Oberkörper und Wollmütze gebouldert wurde. Bouldern bot den cooleren Lifestyle als das Klettern mit Seil: Man hing gemeinsam ab, pushte sich gegenseitig die Wände hoch und tüftelte gemeinsam an harten und schwer zu lösenden Bewegungsproblemen. Bouldern reduziert das Klettern auf das Wesentliche: auf kreative Bewegungen an gegebenen Griffen und Tritten. Die oft spektakulären Züge vor versammelter Mannschaft bieten eine bessere Bühne zur Selbstinszenierung als das klassische Seilklettern. Und das sowohl am Fels als auch in der Halle. Daran hat sich bis heute nichts geändert und der Boulder-Boom ist ungebremst.

Charakteristisch für die Neunzigerjahre war jedoch auch der postmoderne Stilpluralismus: Fels- und Hallenklettern, Bouldern und Sportklettern, alpines Sportklettern, frei gekletterte Bigwalls, Mixed- und Eisklettern oder Deep Water Soloing – die verschiedenen Stile existierten und entwickelten sich gleichberechtigt nebeneinander.

Klettern im 21. Jahrhundert: Generation XII

Über hundert Jahre Geschichte hat das Frei- bzw. Sportklettern mittlerweile auf dem Buckel. Doch wo steht der Sport heute? Aus anfänglich drei Schwierigkeitsgraden sind mittlerweile zwölf geworden: Das inzwischen erwachsene Wunderkind Adam Ondra eröffnete im Oktober 2012 in der Flatanger Cave in Norwegen mit Change erstmals den unteren zwölften Grad. Mit La Dura Dura im gleichen Schwierigkeitsgrad kletterte der Tscheche vom anderen Kletterstern 2013 im spanischen Oliana dem zweiten Wunderkind der Jahrtausendwende, dem Amerikaner Chris Sharma, dessen Langzeit-Projekt vor der Nase weg. Sharma wiederholte die Route wenige Wochen später als Zweiter. Der Franke Alexander Megos sorgte 2013 mit der ersten Onsight-Begehung im glatten elften Schwierigkeitsgrad (Estado Critico in Siurana) für Schlagzeilen und hakte im Frühjahr 2014 den Güllich-Meilenstein Action Directe (11) mal eben in zwei Stunden ab. Und auch der Nachwuchs schläft nicht: Brooke Raboutou kletterte mit gerade mal elf Jahren in Rodellar mit Welcome to Tijuana ihre erste 10+/11-. Ashima Shiraishi bereits mit zehn Jahren den Boulder Crown of Aragorn (Fb 8b) in Hueco Tanks und mit Southern ­Smoke und ­Lucifer in der Red River Gorge gleich zwei Routen im Grad 11-/11. Der Kletterstil der neuen Generation ist kraftvoller, schneller und dynamischer, zum einen durch den Einfluss des Boulderns und zum anderen durch besseres Material und die damit verbundene höhere Sturzbereitschaft.

Vor allem das Hallentraining ermöglicht das Experimentieren mit neuen Bewegungsformen und -stilen: Die alte Dreipunktregel hat ausgedient, in den Boulderhallen sind Parcours-Elemente wie Run-Up-Starts oder Sprünge von Griff zu Griff an der Tagesordnung. Das Gelände ist steiler und die Bewegungen finden verstärkt im dreidimensionalen Raum statt. Schnelles Umschalten zwischen verschiedenen Geländeformen und das Weiterleiten von Körperschwüngen sind hier gefragt. Die 9b-Kandidaten von heute übertragen diese am Plastik erworbenen Bewegungsfähigkeiten an den Fels, und genau darin liegt ihr Erfolgsrezept. Der neue Kletterstil beeinflusst aber nicht nur den Routenbau in Hallen und bei Wettkämpfen, sondern regelt auch die Bevölkerungsdichte an den echten Felsen: Lange und steile Ausdauerrouten sind eher angesagt als kratzige Platten oder senkrechte Wandkletterei und lassen die NewSchool-Kletterer lieber in die spanischen Klettergebiete Oliana, Siurana oder Santa Linya pilgern als in traditionelle Gebiete wie Buoux, Cimai, Verdon oder das Yosemite.


Doch auch an den hohen Wänden dieser Erde geht es immer schwerer, schneller und spektakulärer zu: Ob die Speed-Begehung der Nose durch die Huber Buam (2008), das Free Solo des Weg durch den Fisch durch Hansjörg Auer (2007) oder die erste freie Begehung der legendären Kompressorroute am Cerro Torre durch David Lama und Peter Ortner (2012) – die Grenze des Menschenmöglichen – ob psychisch oder physisch – ist noch lange nicht in Sicht. Die verschiedenen Disziplinen des Kletterns verschmelzen miteinander und bereichern einander.


Unverändert ist jedoch die Tatsache, dass Klettern eine zutiefst individuelle Angelegenheit ist. Für jeden, der sich dem Klettern zuwendet, bedeutet es etwas anderes: Für die einen geht es um Leistung, für andere um die Geselligkeit, ums Reisen oder ums Gipfelerlebnis. Manchen sind schöne Linien wichtig, manche legen mehr Wert auf Stilfragen. Für die einen ist es nur ein Sport, für andere eine Lebensform. »Hüte dich vor dem Sog des gegenwärtigen Klettertrends. Geh hinaus und probiere etwas Neues, sei ein Individuum und suche dir deinen eigenen Weg im Klettern« (FN9), so lautet die Empfehlung von Boulder-Mastermind John Gill. Und egal, welche Früchte der Klettersport in den kommenden Jahrzehnten hervorbringen wird, sie wird auch dann noch Gültigkeit besitzen.

Eva Hammächer

Als Spätberufene im Klettern sind Style-Highlights wie Stirnband und Neonleggings Gott sei Dank spurlos an ihr vorübergegangen. Dafür kam sie gleich zu Beginn in den Genuss viel zu enger Kletterschuhe, die ihr Freund von einer zwei Köpfe kleineren Freundin geliehen hatte. Krämpfe beim Anziehen und Kontaktschmerzen kommentierte er lapidar mit: »Die müssen eng sitzen.« Diese denkwürdige Premiere fand in Fontainebleau statt – in der Gesellschaft ambitionierter Hardmover, deren Interessen sich in einer völlig anderen Galaxie bewegten. Nach dieser traumatischen Erfahrung ist ihr bis heute schleierhaft, wie es danach zu weiteren Felsabenteuern kommen konnte. Irgendetwas muss also dran gewesen sein am Vertikalsport, der sie seitdem nicht mehr losgelassen hat. Wenn sie sich nicht an der Wand nach oben oder unten bewegt, dann schiebt sie als Texterin Buchstaben von rechts nach links.
Online findet man sie unter: www.movingtext.de

 

Aus:

Stephen E. Schmid / P. Reichenbach (Hg.)
"
Die Philosophie des Kletterns
"

Aus dem Englischen von Peter Reichenbach, Roberta Schneider, Blanka Stolz und Daniel Beskos

Hardcover mit Lesebändchen und Titelprägung
224 Seiten | 19,90 Euro
Buch: ISBN 978-3-938539-33-0

E-Book: ISBN 978-3-938539-84-2
Erscheint am 15. September 2014
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Fussnoten

1 - Zitiert nach Heinz Zak, »Rock Stars – Die weltbesten Freikletterer«, Bergverlag Rother, München 1995, S. 11.
2 - »rotpunkt – Das Klettermagazin«, Ausgabe 4/94, S. 18.
3 - Alexander Huber und Heinz Zak, »Yosemite«, Bergverlag Rother, München 2002, S. 71.
4 - Reinhard Karl, »Erlebnis Berg – Zeit zum Atmen«, Limpert, Bad Homburg 1980, S. 76.
5 - »rotpunkt – Das Klettermagazin«, Ausgabe 4/94, S. 24.
6 - Heinz Zak, »Rock Stars – Die weltbesten Freikletterer«, Bergverlag Rother, München 1995, S. 209.
7 - Tilmann Hepp, »Wolfgang Güllich – Leben in der Senkrechten«, Rosenheimer Verlagshaus, Rosenheim 1993, S. 60.
8 - Ebd., S. 46.
9 - Zitiert nach Heinz Zak, »Rock Stars – Die weltbesten Freikletterer«, Bergverlag Rother, München 1995, S. 5.


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