von Nefeli Kavouras
Natürlich interessiert uns auch, was in Italien die bambini lesen. Um also herauszufinden, welche Trends und Themen der italienische Kinderbuchmarkt verfolgt, treffen wir drei unabhängige Verlage: Il Castoro, Terre di Mezzo und Carthusia. Von diesen Verlagen lernen wir, warum italienische Kinderbücher oft so mutig in der Gestaltung sind, wie man herausfordernde Themen kindgerecht erzählen kann und vor allem, warum Kinderbücher überhaupt so wichtig sind.
Il Castoro
Der Verlag Il Castoro feierte im vergangenem Jahr sein 30. Jubiläum und gehört zu den stärksten unabhängigen Kinderbuchverlagen in Italien. Dabei erreichen sie mit ihren Büchern Kleinkinder, aber auch Jugendliche. Zusätzlich veröffentlichen sie Sachbücher für Jugendliche und Graphic Novels. „Wir veröffentlichen zum einen internationale Bestseller in Übersetzung, vor allem im Jugendbuchbereich, aber auch italienische Autor*innen. Letztlich ist uns vor allem die Qualität beim Text und bei der Illustration wichtig - und da versuchen wir, immer einen Stil zu finden, der für möglichst viele Menschen zugänglich ist“, erzählt uns Claudia Pavich, die für die Lizenzen im Verlag zuständig ist. Insgesamt arbeiten etwa 20 Mitarbeiter*innen im Verlag, gemeinsam stemmen sie ca. 100 Veröffentlichungen pro Jahr. Bei der Anzahl der Bücher staunen wir. „Es kommt uns auch so vor, als würden es jährlich mehr Bücher werden, auch wenn das faktisch nicht stimmt. Aber uns ist es wichtig, jedes Buch gut zu betreuen und für jedes Buch eigene Ideen, zum Beispiel fürs Marketing, zu erfinden.“ Überhaupt gehört es für die Programmlinie des Verlags selbstverständlich dazu, neue Ideen zu entwickeln.
Zum Beispiel gehörte zum Verlagsprogramm die Reihe „Il Castoro Cinema“, mit insgesamt 490 Titeln, die dem Kino gewidmet sind. Il Castoro gehört auch mit zu den ersten Verlagen in Italien, die Graphic Novels für Jugendliche veröffentlichten und so zum Beispiel mit der erfolgreichen „Gregs Tagebuch“-Reihe einen großen Erfolg erzielten. Und auch heute reagiert der Verlag flexibel auf Marktanforderungen, indem sie zum Beispiel seit Januar 2024 in ihrem Imprint IL CASTORO OFF qualitativ hochwertige Romane für Jugendliche veröffentlichen. „Als wir damit anfingen, haben wir intern viel darüber diskutiert, wie wir das aufziehen wollen. Denn gerade auf diesem Markt gibt es viel, was uns inhaltlich nicht anspricht. Uns war es direkt wichtig, Geschichten zu erzählen, die keine toxischen Beziehungsverhalten reproduzieren und in denen Frauen auf eine Art repräsentiert werden, hinter der wir als Verlag stehen können", erzählt Andreina Speciale, die ebenfalls im Verlag die Lizenzen betreut. Neben den leckeren Süßigkeiten, die Claudia Pavich und Andreina Speciale für unser Treffen organisiert haben, liegen also mittlerweile eine beeindruckende Bandbreite unterschiedlicher Bücher, die sie uns zeigen, auf dem Tisch. Von feinsinnigen Picture Books bis prunkvollen Jugendbüchern und anspruchsvollen Graphic Novels. Kein Wunder also, dass der Verlag 2019 auf der Shortlist „Best Children‘ Publisher of the Year“ der Kinderbuchmesse in Bologna landete.
Im Jahr 2007 erwarb Il Castoro die historische La Libreria dei Ragazzi in Mailand, die erste auf Kinder- und Jugendbücher spezialisierte Buchhandlung in Italien. 2010 eröffnete der Verlag in Brescia eine weitere Kinder- und Jugendbuchbuchhandlung. Wir besuchen gemeinsam die La Libreria dei Ragazzi in Mailand und staunen direkt über eine praktische Sache: die Tische, auf denen die Kinderbücher liegen, sind niedriger, als wir es sonst kennen. Sie sind auf Augenhöhe der Kinder. Überhaupt ist der Kinderbuchladen so ausgerichtet, dass er Kinder zum Entdecken einlädt. Es gibt auch einen Raum, in dem jede Woche Lesungen stattfinden. Gerade, als wir gehen wollen, kommt uns eine Schulklasse entgegen, die in den Buchladen hineinstürmt. Und so wünscht man es sich ja auch, dass Kinder direkt mit Freude selbst nach den Büchern greifen.
Terre di Mezzo
Den Verlag Terre di Mezzo kannten wir schon vor unserer Reise. Hier nämlich wurde die italienische Übersetzung von „Hey, hey, Taxi“ veröffentlicht, und zwar unter dem sehr süßen Titel „Taxi Pazzi“. Pro Jahr veröffentlicht Terre di Mezzo etwa 100 Bücher, das Programm umfasst dabei hauptsächlich Kinderbücher, Belletristik für Erwachsene, Reisebücher mit Fokus auf Wanderrouten und auch Comics: „Aktuell funktionieren Comics in Italien recht gut, das liegt auch daran, dass die Altersspanne für Comics stark variiert, Erwachsene, Kinder und Jugendliche können gleichermaßen von einem Comic begeistert werden“, erzählen uns Giulia Genovesi und Eleonora Armaroli.
Wenn wir uns in den italienischen Buchhandlungen umschauen, fällt uns oft genau diese künstlerische Qualität der Kinderbücher auf. Die Gestaltung erscheint uns bunt und mutig, gerade im Kontrast zu vielen Kinderbüchern in Deutschland. „Vielleicht liegt das an der fortgeschrittenen Erfahrung, die Italien im Kinderbuchbereich schon hat. Gerade in Italien und in Frankreich gibt es im Vergleich zu anderen Ländern illustrierte Kinderbücher schon recht lange. Vielleicht ist es deswegen auch üblich, mit dem Stil zu experimentieren und auch mehrere Stilrichtungen zuzulassen", sagt Giulia. Trotz der Vielfalt wollen wir von Terre di Mezzo wissen, ob sie eine inhaltliche Entwicklung beziehungsweise einen Kinderbuchtrend wahrnehmen. „Es gibt eine hohe Nachfrage für Kinderbücher, die Emotionen erklärbar machen. Teilweise sogar in Form von Kindersachbüchern", lautet die Antwort.
Dieses Jahr feiert Terre di Mezzo sein 30-jähriges Jubiläum. 1994 startete Terre di Mezzo als Straßenzeitung. Gründerin Miriam Giovanzana schreibt in der ersten Ausgabe über ihre Beweggründe: „Nachrichten in Umlauf bringen, die diejenigen betreffen, die auf der Straße leben - also diejenigen, die vor den Augen aller leben, aber für die meisten Menschen trotzdem unsichtbar bleiben.“ Der Schwerpunkt der Zeitung liegt auf Themen wie Armut, Einwanderung, das Leben auf der Straße und prekäre Lebensbedingungen. Das sind alles Themen, die von den Mainstream-Medien zur damaligen Zeit nahezu ignoriert wurden. Die Zeitung wird anfänglich in Mailand und in Rom verkauft - und zwar von Menschen, die auf der Straße leben oder kürzlich eingewandert sind. Für einige Menschen ist sogar der Straßenverkauf dieser Zeitung die einzige Möglichkeit, eine Aufenthaltsgenehmigung für das Land zu erhalten. Direkt 30.000 Zeitungen werden im ersten Jahr verkauft. 1997 erscheint dann das erste Buch mit dem Titel „Vacation Controman“, in dem es darum geht, wie junge Menschen ihre Urlaube dafür nutzen, sich für Umweltschutzinitiativen zu engagieren.
Mittlerweile hat sich Terre di Mezzo verändert, die Zeitung geben sie nicht mehr heraus, aber organisieren dafür die Messe „Fa‘ la cosa giuta“ (Tu das Richtige!), die sich mit Konssumkritik und Nachhaltigkeit auseinandersetzt. Noch immer strebt Terre di Mezzo an, mit Büchern die Realität zu erzählen und der Utopie nach einer besseren Welt nachzujagen. Egal, ob mit Ratgebern, einem Hand- oder Kinderbuch. Ob es denn etwas zum 30-jährigen Jubiläum gibt, worauf sich Terre di Mezzo freuen? Da nicken Giulia Genovesi und Eleonora Armaroli schnell. Denn Mac Barnett, der schon etwa 50 Kinderbücher veröffentlicht hat, hat extra zum Jubiläum sein erstes Buch für Erwachsene geschrieben. In seinem Essay geht er der Frage nach, was genau denn überhaupt ein Kinderbuch ist - und betont dabei: „Wenn man davon ausgeht, Kinderbücher seien keine echten Bücher, hieße das auch auf eine Art, Kinder seien keine echten Menschen.“ Es ist ein Manifest für die Bedeutung der Kinderliteratur, und es passt auch in die Tradition des Hauses, Bücher für echte Menschen zu machen.
Carthusia
Immer wieder, wenn wir in anderen Ländern sind, überrascht uns die Tatsache, dass Silent Books anderswo weitaus verbreiterter sind als in Deutschland. Silent Books, das sind illustrierte Bücher, die ohne Text auskommen. „Wobei es nicht stimmt, dass Silent Books so still sind. Die Illustrationen sprechen ja für sich“, erzählt uns Carthusia-Verlegerin Patrizia Zerbi. Dass Silent Books in den letzten Jahren zunehmend ein wesentlicher Teil von Kinderliteratur werden, liegt auch an dem italienischen Verlag Carthusia, haben sie doch 2013 erstmals den Silent Book Contest ins Leben gerufen. Bewerben können sich Illustrator*innen aus der ganzen Welt mit unveröffentlichten Manuskripten, das Buchformat gibt Carthusia vor, damit die Silent Books in ihre Programmreihe passen. Die Werke der Finalist*innen werden dann auf der Bologna Buchmesse gezeigt, und die Gewinner*innen des Wettbewerbs werden bei Carthusia verlegt. Die Auswahl treffen zwei Jurys: einmal eine Jury aus Kinderbuchexpert*innen und einmal eine Jury bestehend aus Kindern aus der ganzen Welt. Jedes Jahr bewerben sich bis zu 100 Illustrator*innen.
„Mittlerweile erreichen uns Einsendungen aus über 50 Ländern und aus allen Kontinenten“, erzählt uns Verlegerin Zerbi. Überhaupt ist es dieser internationale Charakter, der Silent Books so besonders macht. Dadurch, dass die Bücher keine Sprachbarrieren aufbauen, sind sie überall gleichermaßen verständlich. „Uns geht es darum zu zeigen, wie universell und 'empowernd' Silent Books sind. Migration ist mittlerweile weltweit ein Thema und wir glauben, dass Silent Books etwas Friedenstiftendes bewirken können. Das ist doch schon besonders, dass Kinder mit unterschiedlichen Herkünften, Kulturen und Sprachen gemeinsam in ein Buch gucken können.“ Wir erzählen Zerbi, dass wir manchmal den Eindruck haben, dass Eltern vielleicht nicht genau wissen, wie man mit Kindern Silent Books anschauen soll, und Zerbi erzählt uns direkt, dass sie einen Zusammenschluss mit Lehrer*innen, Pädagog*innen und Literaturvermittler*innen gegründet hat, die gemeinsam in Workshops den Umgang mit Silent Books lehren. Und mittlerweile zeige sich, dass sich das ganze Engagement lohne: immer mehr Buchhandlungen in Italien haben einzelne Regale ausschließlich für Silent Books. Aber Carthusia macht nicht nur Silent Books.
Der Verlag Carthusia wurde von Patrizia Zerbi 1987 gegründet. Von Anfang an lag der Fokus auf Kinderbüchern. „Unser Anspruch ist es, Kindern mit unseren Büchern die Welt zu erklären. Wir stellen uns bewusst auch herausfordernden Themen - wie zum Beispiel Krankheiten oder Ausgrenzung.“ Um diesen Themen gerecht zu werden, organisiert Carthusia für bestimmte Buchprojekte Fokusgruppen, bestehend aus Illustrator*innen, Autor*innen, Psycholog*innen und Expert*innen aus den jeweiligen Bereichen. Das Ziel dabei ist immer, mithilfe von kindgerechten Metaphern den Ernst des Lebens in eine Geschichte zu verpacken. Mittlerweile besteht das Verlagsprogramm aus mehr als 350 Büchern und überrascht kontinuierlich mit guten Ideen.