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"Es liegen Schätze am Strand" - Oder: Wie organisiert man einen Gastlandauftritt?

Interview mit Bart Moeyaert, dem künstlerischen Leiter des Gastlandauftritts der Niederlande und Flandern auf der Frankfurter Buchmesse 2016

 

 Von Peter Reichenbach

 

Bart Moeyaert (Fotograf: Dries Luyten)
Bart Moeyaert (Fotograf: Dries Luyten)

 

Es ist nicht leicht, sich auf den Straßen Amsterdams zurechtzufinden. Auf dem Weg zum Niederländischen Literaturfonds, wo Daniel und ich uns mit Bart Moeyaert verabredet haben, verfahre ich mich gleich drei Mal. Ich fahre eine halbe Stunde durch den Regen und bin nass bis auf die Knochen, meine Brille ist beschlagen und meine Hände so feucht, dass das Display meines Smartphones nicht mehr reagiert und sich Google Maps partout nicht aufrufen lässt. Ich ärgere mich darüber, dass ich zu spät ankomme und es versäumt habe, ordentliche Regenkleidung mitzubringen. Wie anstrengend muss es da erst sein, eine ganze Buchmesse zu organisieren, frage ich mich, als Daniel und ich endlich unsere Räder abgeschlossen haben. Bart Moeyaert begrüßt uns auf Deutsch, beantwortet alle Interviewfragen ebenfalls in perfektem Deutsch und sieht dabei eigentlich genau so entspannt aus wie auf dem Pressefoto oben.

 

Bart, du bist deutschen Lesern als erfolgreicher Kinder- und Jugendbuchautor bekannt, hast bereits den Deutschen Jugendliteraturpreis gewonnen, den LUCHS … Jetzt trittst du auf einmal als künstlerischer Leiter des Buchmesseschwerpunkts in Erscheinung. Wie kam es dazu, muss man sich bewerben oder wird man angerufen?

(Lacht) Man wird angerufen. Der Nederlands Letterenfonds und der Vlaams Fonds voor de Letteren, die beiden Dachorganisationen, haben sich an ihre Erfahrungen erinnert, die sie im Jahr 1993 gesammelt hatten, als die Niederlande und Flandern schon einmal Gastland waren. Damals hatte man zur Organisation ein Team, was zwar auch gut funktionierte, aber nicht ganz ohne Spannungen war. Und deshalb wollten sie es in diesem Jahr so machen wie Island 2011, nämlich einen Autor als künstlerischen Intendanten. Sie hatten also eine Liste mit Autoren erstellt, die in Frage kommen, und anscheinend stand ich bei beiden Organisationen an erster Stelle. Als ich gefragt wurde, wollte ich eigentlich gerade ein Buch anfangen, ganz gewissenhaft, ich wollte weg von der Welt, mich zurückziehen. … Ich habe also nachgedacht, doch eigentlich wusste ich sofort, dass ich das machen musste.
Seit 25 Jahren fahre ich zur Buchmesse, seit 25 Jahren sehe ich mir die Auftritte der Gastländer an. Ich bin immer aus freien Stücken gefahren, weil ich frei sein wollte von Dingen, die ich tun musste. Ich wollte einfach vier freie Tage haben, denn die Buchmesse war mein Ruhepunkt - aber auch mein Depressionspunkt. An Tag drei war es immer so, dass ich am Morgen dachte: Was mache ich hier? So viele Bücher! Am Abend von Tag drei dachte ich aber auch: Es gibt so viele ekelhafte Dinge hier! Ich muss das anders machen, ich muss es einfach sehr gut machen. Und das war also immer sehr gesund, diese Reise zu machen. Zur Kinder- und Jugendbuchmesse in Bologna bin ich ebenfalls immer gefahren.
Ich bin selbstständiger Autor, das bedeutet, ich lebe vom Schreiben und bin immer mit Schreiben beschäftigt. Schreiben ist mein Leben. Bücher sind mein Leben. Als die Entscheidung gefallen war, dachte ich: Mensch, das wird immens groß werden. Im Rückblick aber war das lächerlich, so zu denken. Denn was ich vor zwei Jahren nicht geahnt habe: Es ist eigentlich noch viel viel größer. Aber die Entscheidung ist da.

 

Ich durfte bei einer Präsentation von dir, bei der du das Konzept vorgestellt hast, in Antwerpen dabei sein. Für mich klang das alles sehr beeindruckend, modern und wenig folkloristisch, wie man es von vielen Schwerpunkten aus früheren Jahren kannte. Besonders interessant fand ich, dass du gesagt hast, dass du nicht nach den Unterschieden, sondern nach den Gemeinsamkeiten Ausschau gehalten hast für dein Konzept.

Das stimmt. Es kommt daher, dass ich oft im Ausland bin. Und als Flame muss ich im Ausland  immer erklären, wie ich schreibe, warum ich schreibe usw. und immer wenn es um meine Sprache ging, ging es jedes Mal schief: „Flämisch, das ist eine Sprache in Belgien? Ist Flämisch ähnlich wie Niederländisch? Wird es denn ins Niederländische übersetzt? Und wo ist dein Verlag? Warum ist es ein niederländischer Verlag?“ Nie konnte man das so richtig verständlich machen. Wir sprechen jetzt Deutsch miteinander, da kann das recht verständlich erklärt werden. Aber auf Englisch sage ich natürlich, dass ich „Dutch“ spreche, ich würde nie sagen, dass ich „Flämisch“ spräche. Genauso wie ein Österreicher wahrscheinlich auch nicht sagen wird, dass er „Österreichisch“ spricht. (Vgl. Hierzu auch den Blogeintrag "Wer spricht was wo?")
Das war mein Ausgangspunkt, ich wollte also über das sprechen, was wir teilen. Danach können wir über die Unterschiede reden, denn jetzt haben wir eine Basis. Und dann habe ich überlegt, welches Thema könnte das sein: Tulpen? Nein. Käse? Nein. Bier? Nein, auch nicht. Aber das Meer, die Nordsee, teilen wir, sowohl Belgien, als auch die Niederlande und Deutschland. Einfach nur die Nordsee als Thema zu haben wäre natürlich blöd, weil es ein touristisches Bild ist. Aber das Meer als literarisches Bild finde ich wunderbar, denn das Meer ist poetisch und auch politisch, denken wir an die Flüchtlinge, und es ist eben nicht immer sanft und schön.

Was außerdem dazu kommt: Wir waren 1993 das erste Mal Gastland und sind es jetzt 2016 zum zweiten Mal. Mich ärgert es immer, wenn Leute zu mir als Autor sagen, wir kennen dich, wir wissen wie du schreibst, nämlich filmisch, poetisch … Ich hasse es, wenn Menschen nicht zweimal hinschauen wollen. Das gleiche ist es nun mit dem Gastlandauftritt, die Leute sagen „Klar, kennen wir, Nooteboom, Claus, Mulisch …“ Dabei sind 25 Jahre vergangen, es gibt neue Namen, neue Menschen, eine neue Dynamik! Es ist wie das Meer, es ist alles in Bewegung, es liegen Schätze am Strand.

 

Was haben die Besucher auf der Buchmesse zu erwarten?

Ich würde hier gerne mit Erwartungen spielen und eine Erfahrung kreieren. Viele der bisherigen Gastländer haben sich gesagt, gut, wir versuchen das gesamte Land zu zeigen. Jede kleinste Ecke, alle Genres usw. Am Ende habe ich aber gar nichts gesehen, weil ich keine Geschichte gehört habe, weil ich nichts gefühlt habe. Anders war das bei den Auftritten von etwa Neuseeland oder Island, die mich sofort emotional berührt haben. Danach habe ich zu mir selbst gesagt, wie blöd, dass ich noch nie ein Buch eines Neuseeländers gelesen habe. Wie blöd, dass ich noch nie in Island war, ich muss da unbedingt einmal hin! Und das hatte mit Eindrücken zu tun, mit Erfahrungen, die ich dort machen durfte. Vielleicht hinkt der Vergleich, aber wenn ich in einem Hotel übernachtet habe und es weiterempfehle, dann lag das nicht an der besonders großen Lobby, sondern daran, dass ich mich dort wohl gefühlt habe. Und das, so meine Beobachtung, liegt immer an den Details, und um diese Details kümmere ich mich jetzt seit zwei Jahren.

 

Ich habe gelesen, dass ein Teil des Konzeptes für den Gastlandauftritt auch die Ausweitung des Programms auf weitere sieben Städte in Deutschland beinhaltet?

Die Geschichte mit den sieben Städten ist sehr leicht zu erklären. Wenn wir das gesamte Budget nur für die fünf Tage in Frankfurt verwenden würden, dann fände ich das blöd. Ich wollte nicht einfach ankommen und dann schnell wieder weg sein. Ich wollte, dass es danach weitergeht und auch, dass es eine Vorgeschichte gibt. So viel Geld haben wir aber nun auch wieder nicht, weshalb ich mich gefragt habe, wie man das trotzdem bewerkstelligen könnte. Ich habe also nachgesehen, welche Events in Deutschland bereits stattfinden werden und wo man kooperieren könnte. Es sind am Ende sieben Städte geworden, Köln, Münster, Karlsruhe, Hamburg, München, Leipzig und Berlin. In Hamburg etwa kooperieren wir sehr eng mit dem Harbourfront-Festival. Schön ist, dass wir in Hamburg ein Schiff haben werden, die Cap San Diego, was sehr gut zum Meer-Thema passt.  Um das noch abzuschließen, für jede Stadt haben wir intern ein Motto, so ist Köln etwa die Pforte nach Deutschland für die Niederlande und Flandern und das stimmt auch chronologisch, denn wir starten mit der LitCologne im März, gleich danach Leipzig, Hamburg als Hafenstadt und Karlsruhe wird die letzte Stadt sein, wo es eine Ausstellung über die Dadaisten nach dem Krieg geben wird, wo wir eine Museumslesung machen werden.
Eine andere Idee, die wir umsetzen: Wir wollen nicht einfach nur Autoren nach Frankfurt schicken, die dann dort auf einer Bühne lesen und danach wieder heimfahren. Wir wollen auch kreieren. Deshalb haben wir zum Beispiel einen deutschen Dichter (Daniel Falb) in die Niederlande geschickt, wo er zwei Wochen leben soll, in einer Stadt am Meer. Und ein Niederländer geht nach Flandern, nach Ostende, und schreibt dort Gedichte und der Flame (Els Moors) lebt in Deutschland am Meer. Die Gedichte werden dann in Frankfurt vorgetragen.
Es wird außerdem ein Theaterprojekt geben, auf das ich sehr stolz bin und bei dem acht Autoren mitwirken werden, vier aus den Niederlanden und vier aus Flandern. Sie werden gebeten, jeweils ein 20-minütiges Stück für Kinder und Jugendliche zu schreiben. In Mainz sollen diese Stücke dann vorgelesen werden. Und ein Jahr später werden Jugendliche diese dann aufführen.

 

Du hast dafür eine gute Formel, wie ich finde: Kreieren, präsentieren und kooperieren.

Genau. Das hat natürlich auch mit Geld zu tun. Aber ein Gastland muss sich fragen, wo ist das Herz, wo ist die Begeisterung? Und das Theaterprojekt ist so ein Beispiel. Es gibt wenige Theaterstücke für Jugendliche und deshalb ist das so wertvoll, denn wer dort mitmacht, erhält keine großen Gagen, hat aber Lust, dabei zu sein, und das finde ich stark.

 

War es denn schwierig auszuwählen, welche Autoren mitkommen und welche nicht?

Ja, sehr schwierig. Hier auf diesem Tisch lagen hundert, was sage ich, tausend Post-It-Notes. Darauf standen alle Städte, alle Festivals für das ganze Jahr. Und dann haben Judith Uytterlinde, verantwortliche für das Literarische Programm, und ich zusammen geschaut, wer bereits von einem Festival eingeladen war. Und dann wurde es schwierig. Man darf ja nicht vergessen, es sind zwei Gebiete, Niederlande und Flandern, und ich kann nur 70 Autoren mitnehmen. Aber unsere Geschichte ist ja auch nicht „70 Autoren nach Frankfurt“ sondern wir wollen 120 Namen, sogar mehr, im ganzen deutschsprachigen Raum vermitteln. Aber ja, es war schwierig!

 

Hast du abschließend einen Tipp für deinen französischen Kollegen, der den Gastlandauftritt Frankreichs im nächsten Jahr organisieren wird. Irgendetwas, was komplett schiefgelaufen ist und das du lieber anders gemacht hättest?

Ich würde ihm raten, ein großes Team mit ganz klaren Verantwortlichkeiten zu haben. Wir werden es sicherlich schaffen, aber wenn ein Team größer ist, wird man die Details besser im Blick behalten können. Jetzt muss ich alle Details im Kopf behalten. Finnland hatte 14 Teammitglieder, das sind doppelt so viele, wie wir haben. Und selbst Finnland hat gestöhnt. Und man sollte auch nicht versuchen, alles zu tun. Jeder, mit dem man spricht, hat eine schöne Idee, aber man kann nicht alles umsetzen.

 

Glaubst du, dass dir deine gesammelten Erfahrungen als Organisator auch etwas für dein literarisches Schreiben bringen werden?

Ja, ich denke schon. Und tief in mir vermisse ich das Schreiben sehr. Vor allem, weil ich gerade nichts schreibe, außer einer Kolumne für unsere Website. Aber ich denke mir: nächstes Jahr! Dann schreibe ich einen großen Roman, und wahrscheinlich werde ich danach den Nobelpreis erhalten … (Lacht)

 

Guter Plan!
Ja, finde ich auch. Eine gute Drohung!

 

Alle Details zum Gastlandauftritt unter: www.frankfurt2016.com

 

(Fotograf: Diego Franssens)
(Fotograf: Diego Franssens)

Bart Moeyaert, 1964 in Brügge geboren, zählt zu den großen europäischen Kinder- und Jugendbuchautoren der Gegenwart. Sein Debüt veröffentlichte er 1983, mit nur 19 Jahren. In seinem Heimatland Belgien vielfach ausgezeichnet, erhielt er für seinen Roman Bloße Hände 1998 auch den Deutschen Jugendliteraturpreis. Weitere internationale und nationale Preise folgten, u. a. 2006 für sein Kinderbuch Brüder (LUCHS von der ZEIT und Radio Bremen) und 2009 für seine Geschichtensammlung Mut für drei (nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis). 2012 war Moeyaert bereits zum fünften Mal für den Hans-Christian-Andersen-Preis nominiert, den »kleinen Nobelpreis«, der alle zwei Jahre auf dem Gebiet der Kinder- und Jugendliteratur vergeben wird. Für den Astrid-Lindgren-Memorial-Award war er bereits dreizehn Mal nominiert. Bart Moeyaerts Werk wurde in 20 Sprachen übersetzt.

Der Autor lebt seit 2006 in Antwerpen und unterrichtet Creative Writing an der dortigen Royal Art School. Er schreibt außerdem Drehbücher und Theaterstücke und übersetzt aus dem Deutschen, Englischen und Französischen. Bei Hanser sind zuletzt Brüder (2006), Mut für drei (2008), Du bist da, du bist fort (2010) und Wer ist hier der Chef? (2012) erschienen. 2013 folgte Hinter der Milchstraße, dessen Originalausgabe im Jahr zuvor mit dem Boekenleeuw für das beste niederländische Kinderbuch 2012 ausgezeichnet wurde.

 

 


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